Gewalt Magdeburger Polizei verharmlost Prügel-Orgie
Zwei Menschen werden in einer Straßenbahn in Magdeburg Opfer einer Prügelattacke. Der Täter kam frei. Die Polizei verharmlost die Attacke.
Magdeburg l Eine 18-jährige Gymnasiastin und ein 28-jähriger Medizinstudent (beide aus Magdeburg) sind am helllichten Tag grundlos und ohne Vorwarnung brutal attackiert worden. Der Vorfall ereignete sich bereits kurz vor Ostern. Die Schülerin erlitt eine Nasenfraktur und einen Bruch des linken Augenhöhlenrings. Sie befand sich zeitweise auf der Intensivstation der Magdeburger Uniklinik. Der Student erlitt drei Platzwunden am Kopf und einen Bruch der Vorderwand der Stirnhöhle. Ihm wurde eine Titanplatte eingesetzt. Beide Opfer sagten, in der Bahn sei ihnen niemand zu Hilfe geeilt.
Nach Volksstimme-Informationen handelt es sich bei dem Schläger um einen 34-jährigen Syrer, der in den zurückliegenden Monaten bereits in Nordrhein-Westfalen zugeschlagen hat. Ihm werden in drei Fällen Körperverletzung und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Die dortige Polizei bestätigte, die Fälle hätten sich in Detmold und in Lemgo ereignet. Zu Einzelheiten wollte sich ein Sprecher nicht äußern. Pressemitteilungen dazu gibt es nicht.
In Magdeburg entschieden die Polizisten vor Ort, dass keine Haftgründe für den Syrer vorlägen. Sie begründen dies auch damit, dass „die genaue Schwere der Verletzungen zu diesem Zeitpunkt“ noch nicht festgestanden habe. In der offiziellen Pressemitteilung der Polizei war lediglich von einem „Armbruch“ die Rede – den aber hat es nicht gegeben.
Der Täter wurde in die geschlossene Psychiatrie der Uniklinik gebracht. Grund: Der Mann habe angegeben, dass er „sich oder anderen Personen schaden“ wolle, wenn er nicht in seine Heimat zurückgebracht werde, so die Polizei. Ein Notarzt habe daraufhin die Einweisung in die Psychiatrie für erforderlich gehalten. Nur einen Tag später entließ sich der 34-jährige Schläger laut internem Polizeibericht selbstständig.
Die Uniklinik wollte sich am Montag auf Nachfrage zum konkreten Fall nicht äußern, weil dies aus rechtlichen Gründen nicht möglich sei. Grundsätzlich gelte, dass im Eilfall eine vorläufige Einweisung ausgesprochen werden könne. Diese sei jedoch längstens bis zum Ablauf des folgenden Tages zulässig: „Eine längere Unterbringung setzt zwingend einen gerichtlichen Unterbringungsbeschluss voraus.“ Gebe es diesen nicht, könne der Betroffene auch gegen den ärztlichen Rat auf seine Entlassung bestehen.
Die Familie der Schülerin setzte indes nach der Attacke alle Hebel in Bewegung. Mit Erfolg. Nach Ostern kam viel Bewegung in die Sache. Rechtsmediziner begutachteten die Verletzungen beider Opfer. Diese wurden nun als „potenziell lebensbedrohlich“ eingestuft. Die Staatsanwaltschaft stellte Haftantrag. Am 26. April, also acht Tage nach der Prügelattacke, erließ das Amtsgericht Haftbefehl. Noch am selben Tag konnte der Schläger in Magdeburg festgenommen werden. Er sitzt jetzt in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt in Burg.
Rückblende: Kurz vor Ostern, gegen 13.30 Uhr in Magdeburg. Dieser Gründonnerstag ist ein schöner Tag. Die Sonne scheint, Vögel zwitschern. Die 18-jährige Levken sitzt in der Straßenbahn, Linie 6. „Ich habe aus dem Fenster geguckt, Musik gehört“, schildert die Gymnasiastin die Situation.
Aus den Augenwinkeln bemerkt sie eine Bewegung. Aus dem Nichts kommt ein Mann auf sie zu. Der Fremde rammt ihr die Faust ins Gesicht. Brutal. Ohne Vorwarnung. Einfach so. Sie ist zur falschen Zeit am falschen Ort. Alles geht blitzschnell. Ihre Nase bricht. Dazu der linke Augenhöhlenring.
Sie taumelt durch den Gang der Bahn. Blut strömt aus der Nase. Andere Fahrgäste reagieren geschockt, wenden sich aber ab. „Keiner hat mir geholfen“, sagt Levken. Ein Fahrgast droht der schwer verletzten Levken mit einer Anzeige wegen Sachbeschädigung - weil deren Blut auf seine Hose getropft sei.
Als die Straßenbahn stoppt, schräg gegenüber vom Landgericht, torkelt Levken auf die Straße. Auch der Angreifer will die Bahn verlassen. Dann schreitet Rami ein. „Ich habe gesagt: ,Geht´s noch?´“, erinnert sich der Medizinstudent an die Situation. „Was willst du?“, sei die Antwort gewesen. Und ein heftiger Schlag ins Gesicht. Auch Rami springt niemand der vielen Fahrgäste bei. „Die ziemlich volle Straßenbahn war plötzlich menschenleer, alle sind schnell geflüchtet“, erzählt der 28-Jährige. „Ich habe um Hilfe gerufen. Aber es kam keiner.“
Zeugen berichten, dass sich die Türen der Straßenbahn schließen. Damit ist Rami einsperrt mit dem Schläger. Wie kann das sein? Diese Frage beantwortet eine Sprecherin der Magdeburger Verkehrsbetriebe am Montag nicht. Sie sagt nur: „Wir bedauern diesen äußerst seltenen Vorfall sehr. Der Vorfall ist für uns sehr erschütternd, gerade im Hinblick auf die fehlende Zivilcourage von anderen Mitfahrern.“
Für den Studenten beginnt eine minutenlange Tortur. Er wird mit Faustschlägen attackiert, stürzt zu Boden. Der Angreifer tritt zu. „Ich habe versucht, meinen Kopf zu schützen“, sagt Rami. Ganz gelingt ihm das nicht. Haut platzt. Blut fließt aus drei Kopfwunden. Die Vorderwand der Stirnhöhle bricht.
Nach „gefühlten zehn Minuten“ öffnet sich eine Tür. Ein Mann mit einem weißen T-Shirt sei hereingekommen, sagt Rami. Er habe gerufen: „Ich bin Polizist, und jetzt ist erstmal Schluss.“ Er beendet die Gewalt-Orgie.
Die Polizeiinspektion teilt am Montag auf Anfrage mit, der Beschuldigte habe sich „renitent“ verhalten und sei von Polizisten mit „Handfesseln fixiert“ worden.
Levken und Rami werden in die Uniklinik gebracht. Der Schläger kommt nicht in Untersuchungshaft, sondern er wird in die Psychiatrie eingeliefert. Und das, obwohl er bereits polizeibekannt ist. Nach Volksstimme-Informationen handelt es sich um einen 34-jährigen Syrer, der in den zurückliegenden Monaten in Nordrhein-Westfalen zugeschlagen hat. Zuletzt im Februar. In Detmold und Lemgo werden ihm in drei Fällen Körperverletzung und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen.
Ein Aufenthaltsort in Magdeburg ist der Polizei zum Zeitpunkt der Einlieferung in die Psychiatrie nicht bekannt.
Warum kam der Schläger nicht in U-Haft? Die Polizeiinspektion Magdeburg erklärt, der Mann habe angegeben, er wolle in seine Heimat gebracht werden. Wenn dies nicht erfolge, werde er „sich oder anderen Personen schaden“. Der Notarzt habe die Einweisung in die Psychiatrie für erforderlich gehalten. Die Polizisten vor Ort hätten das Vorliegen von Haftgründen verneint.
Die „genaue Schwere der Verletzungen“ der Opfer habe „zu diesem Zeitpunkt“ noch nicht festgestanden. Die Staatsanwaltschaft wird nicht eingeschaltet.
Am Karfreitag geht die offizielle Polizeimeldung an die Medien. Die dürren neun Sätze lassen die Prügelattacke harmloser erscheinen, als sie es war. Keine Zeile zu den schweren Verletzungen der Opfer. Stattdessen wird von einem „Armbruch“ berichtet – den es aber nicht gab. Die Nationalität des Schlägers wird verschwiegen. Der Täter, so heißt es, sei geschlossen in einem Krankenhaus untergebracht worden.
Auf diese Presseerklärung stützt sich auch die Berichterstattung in der Volksstimme.
Das klingt, als sei der Schläger zunächst einmal weggesperrt. Bei der Einlieferung in die Uniklinik habe der Mann „erheblichen Widerstand“ geleistet, teilt die Polizei jetzt mit. Nach nur einer Nacht in der geschlossenen Psychiatrie ist er jedoch schon wieder auf freiem Fuß. Er habe sich, wie die Polizei in einem internen Bericht vermerkt, selbstständig entlassen.
Die Uniklinik sagt dazu, ohne gerichtlichen Beschluss sei eine Unterbringung längstens bis zum Ablauf des folgenden Tages zulässig. Für den Fall, dass das Gericht keine ausreichenden Gründe für eine Unterbringung sehe, müsse eine Entlassung erfolgen. Das gelte auch dann, „wenn aus ärztlicher Sicht die Voraussetzungen einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder für den Betroffenen selbst noch vorliegen sollten“.
Inga S., Levkens Mutter, erfährt fünf Tage später irgendwoher, dass der Schläger wieder frei herumläuft. Sie ist fassungslos. „Der ist eine Gefahr“, sagt sie. „Eine tickende Zeitbombe. Wann schlägt er wieder zu?“ Die Familie setzt alle Hebel in Bewegung, damit der Vorfall endlich ernstgenommen wird.
Inga S. ist auch Tage nach der brutalen Attacke auf ihre Tocher noch aufgewühlt. „Das war ein Schreckensszenario“, sagt sie. „Der blanke Terror. Die Wahrheit darf nicht verschwiegen werden.“ So ein Schläger müsse weggesperrt oder sofort ausgewiesen werden, sagt sie. Die Politik müsse Härte bei Gewalttätern zeigen. „Es darf nicht schwarz-weiß gedacht werden“, sagt Inga S. „Aber Schutzsuchende dürfen nicht durch Täter leiden, die sich in unserem Staat ungestraft austoben können.“
„Wir haben selber ausländische Freunde, das sind feine Menschen“, betont Inga S. In ihrem kleinen Betrieb beschäftigt sie auch eine Auszubildende aus Afghanistan. Die habe gesagt: „Ich schäme mich so für das, was passiert ist.“ Levken sagt mit Blick auf die Nationalität des Schlägers: „Man darf das nicht verallgemeinern.“
Das hartnäckige Intervenieren der Familie S. bringt indes viel in Bewegung. Der Vorfall wird in der Woche nach Ostern genauer untersucht. Rechtsmediziner begutachten die Verletzungen beider Opfer. Wie die Volksstimme zunächst aus internen Quellen erfährt, werden diese nun auf einmal als „potenziell lebensbedrohlich“ eingestuft. Von einem „Armbruch“ ist keine Rede mehr. Diese Information sei aufgrund der Angaben eines Rettungssanitäters „fälschlicherweise aus den dienstlichen Unterlagen übernommen worden, ohne näher verifiziert zu werden“, verlautet dazu jetzt aus der Polizeinspektion.
Videos aus der Straßenbahn werden nun ausgewertet. Die Staatsanwaltschaft stellt Haftantrag. Am 26. April, also acht Tage nach dem Angriff, erlässt das Amtsgericht Magdeburg Haftbefehl. Noch am selben Tag kann der Schläger in Magdeburg festgenommen werden. Er wird in die Justizvollzugsanstalt Burg gebracht. Ein Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung wird eingeleitet. Es wird damit gerechnet, dass die Staatsanwaltschaft in den nächsten Wochen Anklage erhebt.
Auch die Volksstimme-Recherchen zeigen Wirkung. Am Montag teilt das Polizeirevier Magdeburg mit, dass ein 34-jähriger Beschuldigter am Freitag verhaftet worden sei.
Rami wird einen Tag nach Verhaftung des Täters aus dem Krankenhaus entlassen. Er sieht immer noch arg lädiert aus. Über dem rechten Auge verdeckt ein Pflaster eine lange Narbe. Er hat jetzt eine Titanplatte im Kopf. Würde er sich in einer vergleichbaren Situation erneut einmischen? „Ich würde das definitiv wieder machen“, sagt Rami und lächelt leicht. „Das ist für mich eine normale Reaktion.“ Kurze Pause. „Die Frage müsste anders lauten: Wieso haben die anderen nichts getan?“ Inga S. sagt: „Was für ein mutiger Mann mit Herz!“
Rami ist jetzt für ein paar Tage nach Berlin gefahren. Zur Familie. Abstand gewinnen. Sein Vater ist Marokkaner, die Mutter Deutsche, er wurde in Paderborn geboren. Der Medizinstudent ist im 10. Semester. Er steht kurz vor dem zweiten Staatsexamen.
Levken steckt mitten im Abi-Stress. Auch sie ist wieder zu Hause. Auf dem Wohnzimmertisch blüht ein farbenfrohes Blumen-Meer. Die Anteilnahme ist groß. Mehr als eine Woche nach dem Faustschlag ist das linke Auge noch blau. Levken wirkt gefasst. Äußerlich zumindest. Sie spricht mit ruhiger Stimme. Nächste Woche ist am Gymnasium die Deutschprüfung. Die will sie mitmachen. Trotz allem.
Inzwischen hat sich das Innenministerium von Sachsen-Anhalt in den Fall eingeschaltet.