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Eine Idee, die vor, aber auch weit nach dem Mauerbau kursierte Mehr als nur ein Scherz: Berlin-Umzug in die Lüneburger Heide

13.08.2011, 04:29

Stendal. Es klingt absurd, fast wie ein April-Scherz, doch die Idee war zunächst eine Reaktion auf den Kalten Krieg Ende der 50er Jahre. Der damalige CDU-Minister Gerhard Schröder hegte sie ebenso wie Jahre später der junge Bonner Ministeriale Thilo Sarrazin: West-Berlin sollte in die Lüneburger Heide umziehen.

"Der Gedanke, West-Berlin aufzugeben, kursierte in der westdeutschen Politik unter der Hand, ohne dass er jemals konkretisiert wurde, geschweige denn ein territorial umrissenes Tauschobjekt definiert worden wäre", beschreibt es der Herausgeber des Berliner "Tagesspiegels", Gerd Appenzeller.

Lange Zeit galt die geteilte Stadt als politischer Brennpunkt, an dem sich ein dritter Weltkrieg entzünden könnte. Die gescheiterte Berlin-Blockade 1948/49 und Chruschtschows Berlin-Ultimatum rund zehn Jahre später, mit dem er Amerikaner, Engländer und Franzosen zum Abzug aus dem Westteil der Stadt zwingen wollte, führten damals zu verschiedensten Krisenszenarien.

Wie aus einem Artikel des "Spiegel" von 1960 hervorgeht, befasste sich um die Jahreswende 1958/59 eine deutsch-alliierte Arbeitsgruppe mit der Frage, ob die Berliner im Falle einer neuerlichen sowjetischen Blockade der Stadt wenigstens teilweise evakuiert werden sollten. Die Idee: Ausgeflogene Berliner könnten zweckmäßigerweise in vorhandenen Truppenunterkünften untergebracht werden. Als Auffanggebiet hatten die Strategen dabei das Gebiet der Lüneburger Heide im Blick: Der Flugplatz Hannover lag günstig zur geteilten Stadt und der Nato-Flugplatz Faßberg zwischen Celle und Uelzen war bereits als Start- und Landeplatz der "Rosinenbomber" zu Blockade-Zeiten ein wichtiger Stützpunkt gewesen.

"Dieser Evakurierungsplan wurde in der Viermächte-Arbeitsgruppe damals besprochen, ist aber in offizielle Berichte dieses Gremiums nie aufgenommen worden", schrieb das Nachrichtenmagazin. Im Herbst des Jahres 1960 sorgte der Militärkorrespondent der renommierten englischen Tageszeitung "Guardian", Leonard Beaton, jedoch mit einem Vorschlag für Wirbel, West-Berlin gegen ein Territorium einzutauschen und den betroffenen Bewohnern freizustellen, sich entsprechend umsiedeln zu lassen.

Der Brite hatte dabei die Region zwischen Bispingen und Bad Bevensen nicht erwähnt, doch der Minister für gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer, konterte:"Mit allem Respekt vor dem guten Willen der britischen Zeitung kann ich nur sagen, dass der Vorschlag, die West-Berliner in die Lüneburger Heide zu evakuieren, nur als verfrühter Aprilscherz abgetan werden kann." Auch Berlins damaliger Regierender Bürgermeister Willy Brandt (SPD) entgegnete frei nach Hermann Löns: "Es ist eine herrliche Sache, dass die Lüneburger Heide Naturschutzgebiet ist. Dabei sollte es auch bleiben."

Blieb es aber nicht. Im September 1961 vertraute der damalige Innenminister Gerhard Schröder (CDU) mehreren Journalisten an, West-Berlin sei als Stadt ohne Krieg für den Westen nicht zu halten. Er, Schröder, sehe daher nur die Alternative "Krieg oder Räumung West-Berlins", Evakuierung der Stadt, Neuaufbau in der Lüneburger Heide, rekonstruierte die Wochenzeitung "Die Zeit" Jahre später.

Im schwarz-gelben Koalitionslager sorgte diese Äußerung seinerzeit für Aufregung und gefährdete fast Schröders Ernennung zum Bundesaußenminister. Die Berlin-Befürworter ließen sich indes beschwichtigen. Als Außenminister hatte Schröder ohnehin ein ganz anderes Terrain zu beackern.

Nicht zuletzt rührte manche Antipathie auch daher, da die geteilte Stadt als "teuer" galt. Noch in den 70er Jahren rechneten Mitarbeiter des Finanzministeriums aus, dass eine Umsiedlung West-Berlins und der Neuaufbau der Stadt in der Lüneburger Heide billiger sei als die dauernden Subventionen.

Es war Thilo Sarrazin, der dies 2009 bei seinem Abschied als Berliner Finanzsenator enthüllte. Sarrazin war zu Beginn der 70er Jahre Ministerialdirigent im Bundesfinanzministerium. Vor dem Verband der Berliner Kaufleute sagte der damalige Senator wenige Tage vor seinem Ausscheiden aus der Politik, "als Bonner" habe er sich damals sehr darüber geärgert, wie viel Geld durch die Berlin-Förderung "verbrannt" worden sei. Noch 1989 hätte Berlin von den damals 35 Milliarden Euro, die es ausgab, 17 Milliarden Euro vom Bund erhalten. Daher habe er Mitte der 70er Jahre mit Kollegen das Vorhaben entwickelt, Berlin in der Lüneburger Heide neu zu bauen und die Reste West-Berlins an die DDR zu vermachen.

Sarrazins Bemerkungen erregten damals nur die Hauptstadt-Zeitungen. Zu seinem Abschied habe er es "noch einmal richtig krachen lassen", befand das Boulevard-Blatt B.Z. Sein Sprecher beeilte sich denn auch zu versichern, dass die Bemerkung über das Verschenken Berlins "natürlich nur scherzhaft gemeint" sei.

Ob Kantinen-Szenario oder Kalter-Krieg-Strategie: Eingebrannt ist die Idee heute aber noch auf CD, denn auch das RIAS-Hörfunk-Kabarett "Die Insulaner" hatte das Thema vor 50 Jahren aufgespießt. Zu hören ist der Titel auf ihrer CD Nr. 8 – "Berlin in der Lüneburger Heide".