Messie-Syndrom Mein Nachbar, der Messie
Müll, so weit das Auge reicht: Ein heruntergekommenes Haus und seine Bewohnerin sorgen seit mehr als zehn Jahren für Ärger in der Börde.
Bregenstedt l Seit vielen Jahren erhitzt ein altes Haus in dem kleinen Börde-Dorf Bregenstedt die Gemüter. Müllberge vor dem Eingang, im Garten und unangenehme Gerüche breiten sich wenige Meter von der Dorfkirche entfernt aus. Die Nachbarn sind sauer und sprechen vom „Messie nebenan“. Doch was steckt dahinter?
Vor dem Eingang des großen Fachwerkhauses kreisen Dutzende Fliegen. Zielstrebig landen sie nacheinander auf dem Batzen Katzenfutter, der auf einem weißen Teller sein Dasein in der Sonne fristet. Graue und rote, alte, muffige Decken liegen ausgebreitet auf der alten Steintreppe, auch fünf alte Krücken finden hier Halt. Pappkartons, Müllsäcke, Plastikeimer. Ein Geruch, der die Augenbrauen ungewollt zusammenziehen lässt und sich wie ein unsichtbarer Vorhang um das Grundstück wickelt. „Das ist das Messie-Haus“, sagt Wolfgang Perschewsky.
Der 59-Jährige wohnt mit seiner Frau direkt gegenüber. Sie ist in Bregenstedt geboren, er lebt seit mehr als 40 Jahren in dem Ortsteil der Verbandsgemeinde Flechtingen. „Wir haben versucht, mit der Frau zu reden, aber sie winkt sofort ab“, sagt er. „Sie spricht immer wieder von ihren Schätzen und dass es uns nichts angeht, was auf ihrem Grundstück passiert.“ In Perschewskys Stimme schwingen Unverständnis, Wut mit. Verbal setzt er selten einen Punkt am Ende seiner Sätze, wenn er vom „Messie“ redet. Rage.
Der „Messie nebenan“, das ist eine 79-jährige Frau, die ursprünglich wohl aus Oebisfelde stammt. Trotz mehrmaligen Klopfens bleibt ihre Tür zu. Nach Volksstimme-Informationen hat sie knapp ein Dutzend Haftbefehle erhalten. Ist dann aber immer wieder rechtzeitig auf dem Polizierevier erschienen, um die haftbefreiende Zahlung zu leisten. Ihr Haus steht direkt neben der Dorfkirche in Bregenstedt. Vor vier Jahren ersetzte die Kirchengemeinde den Maschendrahtzaun durch einen robusten Holzzaun. Zuvor, so berichten es mehrere Anwohner, sei die Frau immer wieder mit Toilettenpapier in der Hand auf das kleine Rasenstück auf dem Kirchengelände gewesen. „Was sie da gemacht hat, kann man sich ja wohl denken“, sagt Perschewsky und schüttelt den Kopf.
Durch die Fenster des Hauses sind Müllberge erkennbar, der Garten bietet kaum einen freien Fleck. Gartenschirme, Fahrräder, Dosen, Müll. Nachts würden sich hier vor allem Ratten wohlfühlen, sagt Perschewsky. Auch Friedrich Tamm ist jetzt dazugekommen. Er wohnt seit 60 Jahren in Bregenstedt, direkt neben dem Haus. Das war früher das Postgebäude im Ort, „da sah es noch tiptop aus“, so der 83-Jährige. „Aber was jetzt hier passiert, das ist eine echte Schweinerei.“ Genauer gesagt: was nicht passiert. Die Anwohner sind sauer auf die Gemeinde, „insbesondere auf das Ordnungsamt“, betont Perschewsky.
Frauke Ueckert von eben jener Behörde kann die Wut der Bürger verstehen, sehr gut sogar. Seit 2009 ist dem Ordnungsamt der Fall bekannt. Seitdem sind sie und ihre Kollegen fast einmal wöchentlich vor Ort, um die Frau aufzufordern, den Müll vor der Haustür, auf öffentlichem Gelände also, zu beseitigen. „Aber viel mehr können wir nicht machen“, sagt Ueckert fast schon entschuldigend. „Was auf dem Privatgrundstück passiert, ist ureigenste Privatangelegenheit.“ Vor zehn Jahren brannte es in dem Haus. Seitdem gibt es nach Angaben des Ordnungsamtes keinen Strom, kein Wasser, keine Abwasserleitung mehr.
„Ein bauaufsichtliches Einschreiten war damals nicht erforderlich, da trotz Brand keine Einsturzgefahr für das Wohngebäude bestand“, erklärte Ute Burchhardt vom Bauordungsamt. Es hätte lediglich eine Empfehlung der Bauaufsichtsbehörde an die Eigentümerin gegeben, sich für den Zeitraum der Sanierung eine andere Wohnmöglichkeit zu suchen. Auf den ersten Blick ist jedoch fraglich, ob es je zur Renovierung gekommen ist.
Ist ein Wohnen unter diesen Umständen überhaupt zulässig? „Wenn keine anderen Personen beeinträchtigt oder geschädigt werden, dann ist es das (Grund-)Recht der Person, so zu leben“, erklärte Rechtsanwalt Alfred Hart. Vergleichbar sei dies mit Fällen, in denen Behörden Obdachlose auch nicht zwingen dürfen, in einem entsprechenden Haus zu leben. Doch was ist mit den Ziegeln, die vereinzelt bereits heruntergefallen sind und sich notdürftig an der Hauswand festklammern? „Bezüglich der losen Bauteile am Giebel des Gebäudes ist bereits ein Verfahren bei der Bauaufsicht anhängig“, erklärte Burchhardt. Zudem werde die Behörde die Recherchen der Volksstimme zum Anlass nehmen, um sich noch einmal ein Bild vor Ort zu machen „und gegebenenfalls weitere Maßnahmen einzuleiten“.
Auf den ersten Blick ist dieser Fall ein klassischer Nachbarschaftsstreit in einem kleinen Börde-Dorf. Einer, der fünf Kilometer weiter, im nächsten Ort, niemanden mehr interessiert. Einer, der viele Anwohner hier in Bregenstedt aber jeden Tag beschäftigt. Vor allem dann, „wenn der Wind schlecht steht“, sagt Tamm. Auf den zweiten Blick jedoch offenbart dieser Fall auch das oft umschriebene Problem der Zuständigkeiten. Behörden sind sich uneins, schieben das Heft des Handelns von links nach rechts und wieder zurück. „Jetzt wird der Schwarze Peter hin- und hergeschoben“, sagte auch ein Mitarbeiter, der nicht namentlich erwähnt werden will, gegenüber der Volksstimme.
Auch das Gesundheitsamt weiß von dem Fall, war bisher aber noch nicht vor Ort. Zwar kann der Sozialpsychiatrische Dienst in Fällen einer fraglichen Verwahrlosung verschiedenste Hilfen für den Betroffenen anbieten, vorausgesetzt, es liegt eine psychische Erkrankung vor. „Sämtliche Hilfen sind jedoch freiwillig und können nicht zwangsweise durchgesetzt werden“, sagte Landkreissprecher Uwe Baumgart.
Dass die Frau selber Hilfe suchen wird, erscheint unwahrscheinlich. „Die Betroffenen schämen sich, sind meist isoliert“, sagt Erziehungswissenschaftler Peter Bandali, der sich intensiv mit dem Messie-Syndrom auseinandergesetzt hat und deutschlandweit Fortbildungen anbietet. „Wenn andere Menschen diese vielen Sachen, die gehortet werden, als Müll bezeichnen, wird das vom Betroffenen als Angriff auf die eigene Identität gewertet“, so Bandali. „Da entsteht dann tatsächlich ein realer Schmerz.“ Noch immer ist das Messie-Syndrom nicht als Krankheit anerkannt. Dementsprechend wenig wurde bisher erforscht. Studien? Kaum vorhanden.
Zu den in Deutschland gefragtesten Experten rund ums Messie-Syndrom gehört Michael Schröter. In Gauting bei München gründete der heute 67-Jährige vor vier Jahren die weltweit erste Messie-Akademie, „weil es damals nirgends ein Institut gab, dass Ausbildungen zur Messie-Fachkraft angeboten hat“, sagt Schröter.
Er arbeitete früher bei der Caritas in München, kam so in Kontakt mit dem Thema. Mittlerweile agiert die Akademie auch in Sachsen-Anhalt, hat einen Standort bei Hergisdorf im Südharz. Pro Woche führen Schröter und sein Team bundesweit rund 25 Beratungsgespräche mit Betroffenen und Angehörigen durch. Circa 50-mal sind die Hilfe-Teams pro Jahr im Einsatz, um Menschen bei der Räumung ihrer Wohnung zu helfen. „Es gab auch schon einmal einen Einsatz, bei dem wir 20 Tage benötigt haben“, sagt Schröter. Der wurde Anfang des Jahres über die bayerischen Landesgrenzen hinaus aber noch aus einem ganz anderen Grund bekannt. Mit seiner gegründeten Messie-Partei wollte er bei den Europawahlen ins Parlament einziehen „und dort für die Anerkennung des Syndroms als Krankheit werben“. Doch daraus wurde nichts. Es scheiterte bereits an den rund 4000 benötigten Unterschriften, um überhaupt zur Wahl zugelassen zu werden.
Über das Messie-Syndrom wissen auch Perschewsky und Tamm nicht viel „Ich habe schon Mitleid mit der Frau“, sagt Perschewsky. „Aber sie wollte ja von Anfang an nicht mit uns reden.“ Hätte er ihr denn geholfen? Schulterzucken, die Mundwinkel des freundlichen Bregenstedters fallen nach unten, der Kopf nach hinten. „Keine Ahnung, dazu ist es ja nie gekommen.“