Hochwasser in Sachsen-Anhalt: Einwohner aus Breitenhagen dürfen nach 17 Tagen in ihr Dorf zurück Nach der Flut: Chaos, Zerstörung und Gestank
Breitenhagen/Schönebeck. Die Menschen im bis vor kurzem beschaulichen Breitenhagen (Salzlandkreis) sind am Ende. Physisch und psychisch. "Ich bin innerlich wie zerbröselt, ich fühle mich katastrophal", sagt Lutz Gönnert (53) und blickt auf seine von den Wassermassen zertrümmerte Einrichtung. "Alles, was wir uns in harter Arbeit geschaffen haben, ist zerstört."
Betroffen von den Eindrücken nimmt er seine Frau Annekatrin (50) in den Arm und wendet sich zur Seite. "Ich bin wie gelähmt", beschreibt sie ihre Verfassung. "Vor 31 Jahren haben wir geheiratet, heute haben wir weniger als damals", sagt sie den Tränen nahe.
Das Hochwasser nach dem gebrochenen Deich hatte sich bis zu einer Höhe von 1,40 Meter den Weg in das von 2001 bis 2006 komplett renovierte Haus gesucht. Zurückgelassen hat es ein Trümmerfeld - egal ob Fernseher, Bett, Schrankwand oder Schuhe, alles liegt zusammengeschoben in den Ecken und Fluren. Nichts ist mehr heil.
Nur eine Eintrittskarte vom Fußballspiel Wolfsburg gegen Borussia und ein Stick mit Urlaubsfotos ist auf einer Holzkommode unbeschadet durch das Haus geschwommen. Gönnert: "Wir brauchen jetzt Hilfe, Hilfe, Hilfe! Aus eigener Kraft schaffen wir das nicht."
Und diese Hilfe fordert jetzt auch mit Nachdruck Breitenhagens Ortsbürgermeister Bodo Kotzur: "Zuerst muss der Deich geschlossen werden, dann muss das Schöpfwerk wieder in Gang gesetzt werden, und dann muss sofort und unbürokratisch der Bevölkerung finanziell geholfen werden." Seine Sorge ist, dass sonst viele Breitenhagener nicht mehr im Dorf bleiben und weggehen werden.
Auch Gönnerts spielen mit dem Gedanken, im benachbarten Groß Rosenburg nochmal neu zu beginnen. Und Lutz Gönnert ist gleich doppelt betroffen, denn er hat in Groß Rosenburg eine Firma, die nun seit Wochen nicht mehr arbeiten konnte. "Einen Mitarbeiter musste ich schon entlassen", beschreibt er seine Misere.
Die Zufahrt nach Breitenhagen ist noch immer schwierig. Die Straße von Groß Rosenburg ist teilweise überflutet. Gestank wabert über die überfluteten Wiesen und Felder. Berge von nicht mehr brauchbaren Einrichtungsgegenständen liegen an den Straßenrändern, die Kreisreinigung ist mit Lkw um den Abtransport bemüht, sie wird noch lange damit zu tun haben. "Es ist grauenvoll dort", so Christian Jung, Flussbereichsleiter des Landesbetriebs für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft (LHW) in Schönebeck.
Viele Häuser im Dorf standen bis zu 1,80 Meter unter Wasser. Jetzt türmen sich Unmengen von Hausrat auf den Straßen und Wegen, doch der Kreiswirtschaftsbetrieb scheint mit der Entsorgung leicht überlastet zu sein. "Wenn die weiter in dieser Quantität fahren, haben die noch zwei Jahre zu tun", merkt Jung süffisant an. Das hat inzwischen auch der Landkreis erkannt: Der schickt "Mann und Maus" mit Fahrzeugen zur Entsorgung des Sperrmülls in das Katastrophengebiet.
Haus ist versichert, aber das Geschäft nicht
Seine zerstörte Existenz beklagt auch Erhard Kretzmann (62), der in Breitenhagen eine Radlerrast betreibt: "Mein Haus ist versichert, aber nicht mein Geschäft. Außerdem schwimmt in meinem Keller Heizöl." In der Tat riecht schon die ganze Umgebung danach. Er fordert, dass eine Spezialfirma die stinkende Ölbrühe abpumpt, sonst ziehe das Öl in die Hausmauern. "Diese Brühe aus dem Haus zu bekommen, da sind die Menschen überfordert. Da muss professionelle Hilfe ran. Aber ich bezweifle, dass der Landkreis das kann", moniert Christian Jung.
Nicht besser geht es Verena Geerhardt (49), die die Überreste ihrer Einrichtung auf die Straße schleppt. "Im Mai haben wir die neuen Fenster eingebaut. Wir waren beim Renovieren, als das Hochwasser kam. Im Haus steht noch der Tapeziertisch." Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie noch bis kurz vor der Evakuierung am Damm mitgeholfen. "Deshalb konnten wir auch nicht so viele Dinge in Sicherheit bringen", beschreibt sie die Umstände ihres hohen Verlustes und hält im Obergeschoss eine kleine Kiste mit geretteten Dokumenten in der Hand. Und überhaupt habe man Breitenhagen vor dem Dammbruch im Stich gelassen, meint sie und ergänzt: "Nur zivile Kräfte haben am Deich gearbeitet. Als die Hubschrauber mit den großen Sandsäcken am Sonntag - dem Tag des Deichbruchs - gekommen sind, war es schon zu spät."
Bert Brandstetter von der Freiwilligen Feuerwehr Breitenhagen hat auch Hab und Gut verloren. Seiner Frau kann er beim Aufräumen jedoch nicht helfen. Denn er sichert mit seinen Kameraden und freiwilligen Helfern um Einsatzleiter Gerrit List nun wieder sein Heimatdorf am gebrochenen und gesprengten Deich. Dort werden am Schöpfwerk die sogenannten Holländerpumpen installiert, die das defekte Schöpfwerk so gut es geht ersetzen sollen. Brandstetter: "Der Notdeich, den jetzt eine Spezialfirma errichtet, muss mindestens zwei Meter hoch werden. Denn die nächste Flut aus Sachsen ist unterwegs, der schützende Deich ist aber weg."
Bis gestern Vormittag fühlten sich die meisten Einwohner von Breitenhagen und teilweise auch von Klein und Groß Rosenburg alleingelassen. Ein Teil der Feuerwehrleute wurde trotz des Katastrophenfalls in diesem Bereich von ihrem Arbeitgeber wieder an ihren Arbeitsplatz gerufen. THW-Helfer waren abgezogen, auch der kreisliche Katastrophenschutzstab machte sich nach Aussagen der Betroffenen rar im Sperrgebiet zwischen Saale und Elbe. "Genauso ist es", schimpft Christian Jung, Flussbereichsleiter des Landesbetriebes für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft in Schönebeck.
Bürger setzten Landkreis unter Druck
Der Experte ist seit dem 3. Juni im Dauereinsatz und seit Tagen in Breitenhagen und Umgebung unterwegs. Nachdem am Sonntag die Bevölkerung des Elbedorfes erst leise, dann zunehmend lautstark rebellierte und den Landkreis unter Druck setzte, ging der Katastrophenschutzstab des Landkreises auf die Forderung der Einwohner ein und ließ sie nach zweieinhalb Wochen das erste Mal kurzzeitig in ihre Häuser oder Wohnungen. Die Evakuierten mussten am 8. Juni Hals über Kopf ihr Zuhause verlassen. Viele haben bis heute nur das in der Hand, was sie an diesem Tag greifen konnten.
Um wenigstens mit kleinen Schritten zu helfen, organisierte der Flussbereichsleiter Pumpen, die auf Fahrzeugen montiert sind. Diese mobilen Einrichtungen werden jetzt den Einwohnern zur Verfügung gestellt, um wenigstens die vollgelaufenen Keller und Häuser ansatzweise leer zu pumpen. "Niemand ist da, der das zentral organisiert. Niemand!", schimpft Christian Jung und gibt damit den Ton wieder, den auch die Breitenhagener im Moment voller Wut anschlagen.
Jung kritisiert zudem, dass sich Landrat Gerstner nur aus sicherer Entfernung nach Breitenhagen herantraut, seine zuständige Fachbereichsleiterin für Ordnung und Sicherheit, Reingard Stephan, soll sich noch gar nicht blicken lassen haben. "Geht das die Leute nichts mehr an?", fragt Jung. Dem widersprach der Landrat gestern Abend gegenüber der Volksstimme, bevor er gegen 19 Uhr nach Breitenhagen aufbrach.
Land reagiert nach Hilferuf aus Krisengebiet
Der Hilferuf der Breitenhagener wurde am Montagabend von der Volksstimme an Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) herangetragen. Der Landeskrisenstab reagierte gestern Vormittag:
1. Den Bewohnern von Breitenhagen ist gestern unter gewissen Voraussetzungen gestattet worden, in ihre Häuser zurückzukehren.
2. Die Menschen in Breitenhagen, Rosenburg und in den anliegenden betroffenen Orten werden bei der Rückkehr in ihre Häuser durch die Polizei unterstützt. Am Donnerstag wird zudem eine Einsatzhundertschaft der Polizei hinzugezogen. Nach Beobachtungen von Breitenhagenern absolvieren die Beamten vor Ort bisher nur eine Art "passive Hilfe": Die Polizisten sitzen in ihren Fahrzeugen und warten darauf, angesprochen zu werden.
3. Gleichzeitig sollten Kräfte des Technischen Hilfswerks (THW) in einer Stärke von rund 30 Mann seit gestern ebenfalls den Einwohnern zur Seite gestellt werden. Die Koordination des Einsatzes erfolgt durch den Katastrophenschutzstab des Salzlandkreises.
Doch den Menschen in Breitenhagen und flussabwärts droht weiteres Ungemach: Über Tschechien gibt es seit gestern Dauerregen. Dieses Wasser lässt die Flüsse dort schnell ansteigen. "Die Werte, die die Tschechen uns zur Verfügung stellen, sind jenseits von Gut und Böse", analysiert Christian Jung. Überall an den Messstellen schnellen die Pegel wieder nach oben.
Schon in der Nacht zu morgen sagen die Experten am Pegel in Barby ein Ansteigen der Elbe voraus. "Wir wissen es noch nicht genau, aber auf fünf bis sechs Meter wird die Elbe erneut ansteigen", so der Flussbereichsleiter. Jetzt sind noch rund 30 Zentimeter Platz, bevor das Wasser über den defekten Deich läuft. Der Pegel soll aber um rund 1,10 Meter steigen. Damit werden nach dem Extremhochwasser Anfang des Monats alle Albträume wahr.