Nachkriegszeit Ingenieure als lebende Reparation
Nach dem Krieg verschleppten die Russen deutsche Spezialisten. Zu ihnen gehörte der Großvater der Hallenser Schriftstellerin Simone Trieder.
Halle l Am 22. Oktober 1946 fuhr ein Militärlastwagen vor das Haus der Großeltern von Simone Trieder in Zerbst. Russische Armisten wummerten an die Tür. Es war früh um 5 Uhr. Die Angst war groß, der Großvater war schon einmal verhaftet worden. Damals wussten sie nicht, dass dieser Morgen eine lange geplante Aktion war. 2500 Familien wurden an diesem Oktober-Tag aus ihrem Schlaf gerissen.
Sie durften ihren Hausrat packen und wurden zu Bahnhöfen gebracht, in Züge gesetzt. Es ging für alle Richtung Osten. Wohin genau, wusste niemand der Abgeholten. Und für wie lange auch nicht. Für die Großeltern und die beiden Töchter sollten es fünf Jahre werden. Der Großvater war sozusagen eine lebende Reparation.
In Potsdam hatten die Alliierten 1945 über das besiegte Deutschland einen Ausgleich für Kriegsschäden beschlossen. Vor allem die Sowjetunion hat in der von ihr besetzten Zone etliche Betriebe demontiert. Für den Wiederaufbau brauchten sie Spezialisten und deren Fachwissen. 2500 Experten mussten den Maschinen folgen – Ingenieure und Techniker, Experten der Flugzeug-, Rüstungs- und Maschinenindustrie. Mitteldeutschland war besonders betroffen.
Dort gab es die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke mit Sitz in Dessau und ihren vielen Außenstandorten wie in Aschersleben, Bernburg, Schönebeck, Halberstadt, zudem die Flugzeughersteller Arado in Wittenberg und die Siebelwerke in Halle.
Warum aber auch Trieders Familie in den Zug steigen musste? Die Hallenserin weiß es bis heute nicht. Der Großvater hatte eine Spritzgussmaschine für die Produktion von Plastik entwickelt. Isolierteile konnten damit hergestellt werden. „Ich kann mir gut vorstellen, dass das für die Flugzeugindustrie interessant war“, sagt die Enkelin. Sie vermutet das, sie weiß es nicht. In der Familie wurde über die einstige Arbeit nicht gesprochen. Schon gar nicht zu DDR-Zeiten. Alles stand unter größter Geheimhaltung. Und Verschleppung durch den sowjetischen Geheimdienst – undenkbar.
Heute kann sie weder Großvater noch Mutter fragen. Er starb schon 1968, sie vor zwei Jahren. Da jährte sich das Ereignis zum 70. Mal.
Was Simone Trieder blieb, ist ein 200-seitiges (damals verbotenes) Tagebuch ihrer Mutter, in dem sich dieses fast vergessene Stück Geschichte wiederfindet. Es ist ebenso Grundlage für das Buch „Unsere russischen Jahre“ wie auch wenige erhaltene Briefe der Großmutter und der Mutter an die deutsche Verwandtschaft. Zudem lebt die Tante noch.
„Mir lag sehr daran, den Alltag zu schildern“, sagt Trieder. Wie haben die Verschleppten dort gelebt? Was haben sie gefühlt? Und was hatten sie sich vorgestellt von dem Volk, gegen das die Nazis übelste Propaganda ausschütteten und einen der schlimmsten Kriege geführt hatten?
Trieder hat sich aber nicht nur auf das Tagebuch konzentriert, sondern 20 Zeitzeugen in ganz Deutschland ausfindig gemacht. Die Recherche war aufwändig, sie begann im Stadtmuseum Halle, dessen Kuratorin im Fundus einen russischen Petroleumkocher ausgegraben hatte. Er stammte von einer Familie aus Halle, die einst zu den Verschleppten gehörte. Erste Adressen kamen hinzu, Briefe tauchten auf, für die Schriftstellerin gab es immer mehr Gespräche.
Was ihr sofort auffiel: Sehr verschiedentlich waren die Erinnerungen an einst. Wer sehr jung war, empfand diese Verschleppung keineswegs nur als schlimm. „Als wir dann in die Breitspur-Personenwaggons eingestiegen waren, sperrten wir Mund und Augen auf. Besonders wir Kinder glaubten uns im Märchenland“, zitiert die Schriftstellerin den Zeitzeugen Rolf Seifert.
Knackig kalte Winter, tolle Sommer, fremdes, weites Land. Und ein Jahr keine Schule – die hatten die Russen in all der Organisation um Wohnungen und Verpflegung einfach vergessen. Die Älteren hingegen fanden viel schwerlicher ihren Weg in den Kolonien in der Nähe von Moskau und an der Wolga.
Und Trieders Mutter? Anfangs wollte auch sie „weg aus diesem miesen Deutschland“. Später aber hat sie gelitten. Sie erlebte die Ferne im blühenden Alter von 22 bis 27 Jahren, sie konnte nicht studieren, machte eine langweilige Arbeit in dem Betrieb, in dem auch der Vater tätig war, hatte kaum gleichaltrige Weggefährten. „Sie fühlte sich eingeengt in dieser jahrelangen Zwangsgemeinschaft. Über die Zeit damals hat sie kaum gesprochen“, erinnert sich die Tochter.
Einer ihrer Briefe, er stammt von 1948, gibt schmerzlichen Einblick in das Seelenleben. Die Mutter schreibt über zwei russische Mädchen, die ein trauriges Lied nach dem anderen anstimmten: „Da kommt mir der dumme Gedanke, als ob sie meine Jugend zu Grabe sängen, ich komme von dem Gefühl nicht los, als ob ich eigentlich schon gestorben wäre.“
Trieder spricht von Trauma, auch von Schicksalsjahren. „Es war eine Verschleppung, aber sie war nicht vergleichbar mit jener der Kriegsgefangenen oder der Zwangsarbeiter.“ Viel schicksalhafter nennt sie die Deportation Zehntausender deutscher Zivilisten, die gegen Kriegsende von der Roten Armee zur Zwangsarbeit nach Russland verschleppt worden waren und unter unmenschlichen Bedingungen leben und arbeiten mussten.
Am 22. Oktober wird Simone Trieder ihr Buch in Magdeburg vorstellen. An diesem Tag vor 72 Jahren begann die Russland-Odyssee für ihre Familie. Sie wird dann sicherlich auch erzählen, dass sie erstaunt war zu erfahren, dass manche die Verschleppung nicht als Bruch in ihrer Biografie gesehen haben. Auch dass einige Zeitzeugen Russland als zweite Heimat im Herzen tragen.
Trieder zitiert im Buch Ulla Gröttrup, die Tochter des Assistenten von Wernher von Braun, über die Rück-Ankunft in Ost-Berlin: „Mein Bruder und ich guckten uns an und sagten, das soll das Zuhause sein? Das ist ja das Allerletzte, scheußlich, nix Grünes, nur Zerbombtes, alles fremde Menschen und alle so unfreundlich und dieser Lärm, was sollen wir hier überhaupt.“ Man hatte sich wohlgefühlt im anderen Leben. Einige von Trieders Zeitzeugen hat es auch immer wieder nach Russland gezogen.
Trieders Mutter hingegen kehrte nie wieder zurück. Lediglich eine Matrjoschka auf ihrem Schreibtisch erinnerte an jene Jahre. Und ihr Russisch. „Sie hat mir beim Russischlernen geholfen. Die Liebe zu dieser Sprache habe ich damals aber nicht aufbauen können. Heute bereue ich das“, sagt die gebürtige Quedlinburgerin. Das Buchprojekt hat ihr ihre Mutter näher gebracht, Russland auch, ebenso dieses Stück Nachkriegsgeschichte, das nicht nur in der eigenen Familie wie ausradiert war.
Anlässlich des 72. Jahrestages der Verschleppung am 22. Oktober ist Buchpremiere. Ort: Gedenkstätte Moritzplatz, Umfassungsstraße 76, Magdeburg. Moderation: Gedenkstättenleiter Daniel Bohse. Beginn 18 Uhr.