Abwanderung Oliver Holtemöller: "Das Volk stimmt mit den Füßen ab"
In den 90er Jahren hat Sachsen-Anhalt gegenüber dem Westen wirtschaftlich enorm zugelegt. Doch der Aufholprozess ist zu stark ins Stocken geraten, warnt Oliver Holtemöller. Der Volkswirt fordert im Interview mit Volksstimme-Reporter Matthias Stoffregen das Land auf, mehr Geld in Bildung und Forschung zu investieren.
Volksstimme: Herr Holtemöller, Sie sind Professor für Volkswirtschaftslehre, beschäftigen sich mit Makroökonomik und Wirtschaftspolitik. Gehört es zu Ihrem Job, nicht nur Studenten, sondern auch Politikern ab und an die Leviten zu lesen?
Oliver Holtemöller: Ich arbeite nicht nur an der Universität, sondern auch am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle. Hier verstehe ich mich als unabhängiger Politikberater. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, die Politiker konkret bei der Umsetzung ihrer Vorhaben zu beraten. Diese Aufgabe haben Experten, die in den Ministerien arbeiten. Unabhängige Politikberater hingegen fungieren eher als Anwälte der Öffentlichkeit und geben ihre Einschätzungen lediglich auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse ab.
Ärgert es Sie, wenn Politiker wie Regierungschef Reiner Haseloff (CDU) Ihre kritischen Äußerungen als Zahlenspiele abtun?
Ärgern ist das falsche Wort. Ich bin eher beunruhigt darüber, weil ich glaube, dass es diesem Land guttut, wenn wir über die wirtschaftliche Entwicklung sachlich diskutieren. Kritische Erwiderungen sind für mich Ansporn, mich noch mehr anzustrengen, um die Debatte voranzubringen. Und das werde ich weiter tun, auch wenn ich dafür kritisiert werde.
Befindet sich die Landesregierung wirtschaftspolitisch auf dem richtigen Kurs?
Ja und nein. Ich sage nicht, dass die Landesregierung alles falsch macht. Die Wirtschaftspolitik in Sachsen-Anhalt ist nicht schlechter als die in anderen Bundesländern. Aber sie ist eben auch nicht besser. Unser Anspruch muss sein, von den Besten zu lernen. Da kann man international schauen, wie erfolgreiche Konzepte aussehen. Und ich möchte an ein paar Stellen Vorschläge machen, wie man sich verbessern kann.
Worin liegen denn aus Ihrer Sicht die Gründe für das schwache Wirtschaftswachstum?
Es gibt mehrere Einflussfaktoren. Der wichtigste ist die demografische Entwicklung. In keinem anderen Bundesland schrumpft die Zahl der Erwerbstätigen so stark wie in Sachsen-Anhalt. Das hängt zum einen mit der Zahl der Geburten zusammen, zum anderen fällt die Abwanderung hier schon seit Längerem stärker aus als in den anderen ostdeutschen Ländern. Man könnte sagen, das Volk stimmt mit den Füßen ab.
Inzwischen wandern zwar insgesamt mehr Menschen ein als aus. Das liegt aber an den ausländischen Zuwanderern, die vor Wirtschaftskrisen und Kriegen flüchten. Im innerdeutschen Vergleich verliert Sachsen-Anhalt noch immer Einwohner an andere Bundesländer. Und man muss sich dann schon fragen, woran das liegt. Denn die Ein- oder Abwanderung in einer Region ist der beste Standortindikator. Wenn sich die Menschen wohlfühlen, dann bleiben sie, oder es kommen noch welche hinzu. Wenn sie den Standort nicht mögen, dann gehen sie, oder es kommen keine neuen dazu.
Weshalb hält die Abwanderung an?
Das hat in erster Linie mit den Arbeitsmarkt-Chancen zu tun. Bekomme ich hier einen Job? Erhalte ich für den Job hier genauso viel Geld wie in den anderen Regionen? Nach wie vor sind die Löhne in Ostdeutschland niedriger als in Westdeutschland, und die Arbeitslosenquote ist immer noch höher. Und wenn wir über Zuwanderung aus dem Ausland sprechen, müssen wir uns anschauen, wie es um die Willkommenskultur bestellt ist.
Eine ganz traurige Statistik ist die der rechtsextremen Straftaten. Auf eine Million Einwohner kamen laut Verfassungsschutzbericht im Jahr 2013 in Sachsen-Anhalt 25 rechtsextrem motivierte Straftaten und damit deutlich mehr als in anderen Bundesländern. Qualifizierte Fachkräfte ziehen nach wenigen Jahren weiter, wenn sie sich nicht hinreichend integriert fühlen. Das ist zwar grundsätzlich auch ein deutschlandweites Problem, aber insbesondere eben auch ein Problem Sachsen-Anhalts. Und wir haben natürlich ein Interesse, dass gerade die Motiviertesten hierbleiben und nicht weiterziehen.
Der Bevölkerungsrückgang ist der wichtigste Grund für schwaches Wirtschaftswachstum, sagen Sie. Welche Gründe gibt es darüber hinaus?
Ein weiterer Grund ist die vergleichsweise niedrige Produktivität der Wirtschaft, sie ist fast 30 Prozent niedriger als in Westdeutschland.
Ist die Produktivität nicht auch deshalb geringer, weil es nur wenige große Unternehmen gibt?
Das hängt in der Tat miteinander zusammen. Aber das kann auch nur eine Erklärung für die vergangenen 25 Jahre sein. Es darf nicht das Argument dafür sein, dass es in den nächsten 25 Jahren so bleiben soll. Alle Unternehmen im Westen, die heute groß sind, haben mal klein angefangen. Wir brauchen daher eine Gründungskultur. Unternehmen, die innovative Ideen entwickeln, Produkte marktfähig machen und dann wachsen. Große Firmen fallen nicht vom Himmel.
Regierungschef Haseloff argumentiert, dass das Land in Bildung und Forschung investieren würde, die Unternehmen jedoch nicht genug machen würden. Wie schätzen Sie das ein?
Haseloff hat zunächst Recht. Es ist im Wesentlichen der privatwirtschaftliche Bereich, der zu wenig Geld für Forschung ausgibt. Das hängt auch mit der Betriebsgröße zusammen, kleine Unternehmen können nicht so viel Geld für Forschung investieren, haben keine eigene Forschungsabteilung. Nur - auch hier müssen wir in die Zukunft blicken. Wenn wir an dieser Situation etwas ändern wollen, dann brauchen wir mehr Innovationen. Und die kommen von entsprechend motivierten und gut ausgebildeten Menschen. Wir müssen also zum einen junge Talente selber ausbilden und zum anderen junge Talente ins Land locken. Hier spielen die Hochschulen eine wichtige Rolle.
Aber leider will die Landesregierung nicht mehr so viele Studienplätze finanzieren, weil die Bevölkerung zurückgeht und die Steuereinnahmen künftig sinken. Ich würde dagegen empfehlen, lieber mehr junge Leute herzuholen und die Universitäten und Fachhochschulen finanziell besser auszustatten. Natürlich bleiben nicht alle Absolventen nach dem Studium hier. Aber es ist leichter, junge Menschen ins Land zu locken als jene, die bereits woanders eine Familie gegründet haben.
Hochschulen haben auch eine wichtige Funktion bei der Gründungsförderung. Unternehmen siedeln sich nur dann langfristig an, wenn sie langfristig an Profite glauben. Fördermittel alleine helfen da nicht, sie verpuffen häufig als Mitnahme-Effekte.
Hat die Spardebatte dem Hochschulstandort Sachsen-Anhalt geschadet?
Sie wird dem Standort schaden, gerade im internationalen Vergleich. Allerdings sind die Hochschulen bundesweit zu schlecht finanziert.
Das hängt auch damit zusammen, dass wir uns in Deutschland gegen Studiengebühren entschieden haben. Studiengebühren könnten die Finanzlage der Universitäten verbessern.
Sind die vergleichsweise niedrigen Löhne in Sachsen-Anhalt für das Land ein Standortvorteil oder ein Nachteil?
Ein niedriges Lohnniveau ist nicht automatisch ein Standortvorteil. Die Wirtschaft - auch die in Sachsen-Anhalt - steht im internationalen Wettbewerb. Und die Unternehmen hierzulande können in diesem Wettbewerb langfristig nur mit Innovationskraft, Produktivität und Qualität punkten. Und dafür brauchen wir gut ausgebildete Fachkräfte.
Niedrige Löhne können wir im Wettbewerb mit aufstrebenden Volkswirtschaften in Osteuropa oder Asien nicht als Standortvorteil nutzen.
Müssen die Unternehmen angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels höhere Löhne zahlen?
Man muss hier zwischen den Berufsgruppen unterscheiden. Denn Arbeitnehmer ziehen ja nur dann für einen Job um, wenn es sich finanziell lohnt. Das ist bei Jobs für hochqualifizierte Fachkräfte der Fall. Wenn BMW in Leipzig oder Volkswagen in Wolfsburg hochqualifizierte Fachkräfte benötigen, dann werden sie diese entsprechend bezahlen. Anders stellt sich die Fachkräfteproblematik in Bereichen wie dem Handwerk dar.
Die Betriebe klagen schon jetzt darüber, dass sie kaum noch Personal finden, das die fachlichen Anforderungen erfüllt. Und das hat auch etwas mit der Qualität des Schulsystems zu tun. Sachsen-Anhalt leistet sich ein Schulsystem, bei dem 12 Prozent der Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen. Damit liegen die Schulen des Landes leider mit auf den hinteren Plätzen im deutschlandweiten Vergleich. Nur Mecklenburg-Vorpommern und Bremen haben eine noch schlechtere Bilanz.
Regierungschef Haseloff verweist hier auf die gut ausgebildeten Abiturienten. In der Tat sind die Gymnasien nicht das Hauptproblem. Wir schneiden aber schlecht dabei ab, alle mitzunehmen. Das Handwerk sucht ja nicht vornehmlich nach Abiturienten. Es sucht junge Leute mit einem guten Schulabschluss. Diejenigen aber, die keinen Schulabschluss haben, werden keine Chance auf eine vernünftige Erwerbstätigkeit haben. Das ist ungerecht, und es ist teuer, weil die Gesellschaft sie dann den Rest des Lebens über den Sozialstaat alimentieren muss.
Wie könnte aus Ihrer Sicht die Quote von Schülern ohne Abschluss gesenkt werden?
Indem wir die frühkindliche Bildung verbessern. Die Bildungskarriere, die ein Kind einmal einschlagen wird, entscheidet sich bis zu seinem vierten Lebensjahr. Es reicht also nicht, die Kinder in Krippen und Kindertagesstätten zu betreuen. Sie müssen dort auch systematisch gefördert werden - und zwar umso mehr je schwieriger die individuellen Voraussetzungen sind. Die Schulabbrecher-Quote gibt Hinweise darauf, dass das derzeit nicht in ausreichendem Maße geschieht.
Wo steht Sachsen-Anhalt also nun im Aufholprozess zum Westen, was muss das Land tun, um wirtschaftlich aufzuschließen?
Die Wirtschaft hat in den 90er Jahren enorm aufgeholt. Der Prozess hat sich nun jedoch stark verlangsamt - nach meiner Ansicht zu stark. Die Landesregierung muss deshalb die Rahmenbedingungen verbessern. Mehr Geld in frühkindliche Bildung investieren, damit mehr Kinder bessere Bildungschancen haben. Und die Hochschulen besser ausstatten, um mehr junge, kreative Leute ins Land zu locken. Aber auch die Universitäten sollten überlegen, wie sie ihre Mittel effizienter nutzen könnten. Sie sollten Schwerpunkte setzen, ihre internationale Sichtbarkeit verbessern.