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Online-Sucht Verloren in der digitalen Welt

Handy, Computer, Internet - immer mehr Kinder und Jugendliche verlieren sich in einer virtuellen Welt und werden onlinesüchtig.

Von Janette Beck 07.06.2018, 01:01

Wendgräben l Ein paar schicke Häuser an der Straße, daneben verwaiste Grundstücke mit viel wildem Grün. Keine Menschenseele ist zu sehen. Wendgräben (Landkreis Jerichower Land) liegt im Dornröschenschlaf. Nur eine schwarze Katze läuft von rechts nach links. Wenigstens etwas, das Leben und zudem Glück verheißt. Dennoch scheint es fast so, als ende der Weg irgendwo im nirgendwo. Oder wie Alex* sagt: „Am A... der Welt.“

Für das Großstadtkind ist die im Wald versteckte Klinik im Schloss Wendgräben Endstation. Vorläufig zumindest. Der 14-jährige Leipziger ist onlinesüchtig. Was er von sich aus nach zwei Wochen Therapie immer noch nicht offen zugibt. Wohl aber ist der Junge aus der Anonymität heraus bereit, preiszugeben, dass er „nicht ganz freiwillig“ an diesem verlassenen Ort ist. Aber irgendwie doch gewollt, „denn so konnte es ja nicht weitergehen“, sagt er nachdenklich. Was Chefarzt Dr. Klaus von Ploetz still, aber wohlwollend zur Kenntnis nimmt. Ist Einsicht doch der erste Weg zur Besserung.

Es waren die Eltern, die den Sohn aus der virtuellen Welt buchstäblich herausgerissen haben. In ihrer Not wussten sie sich nicht anders zu helfen, als ihr Kind nach Wendgräben zu bringen. Im Gezeiten Haus soll Alex geholfen werden, seine Sucht in den Griff zu kriegen.

Die Privatklinik in Händen der Familie Nelting (Dr. Manfred Nelting und seine Frau Elke betreiben deutschlandweit vier Kliniken unter dem Namen "Gezeiten Haus“), wurde Mitte 2017 eröffnet. Sie ist spezialisiert auf psychosomatische Erkrankungen und bietet Platz für 45 Patienten. Auch Kinder und Jugendliche werden hier stationär behandelt. Sie sind psychisch erkrankt, leiden unter Depression oder Ängsten, stecken in Krisen oder zeigen ein Suchtverhalten. Einige haben Bulimie oder sind drogenabhängig, andere wie Alex onlinesüchtig.

Es sind verhältnismäßig wenige Teenager, die hier landen, weil sie das Medium Internet exzessiv gebrauchen. „Noch“, sagt von Ploetz, der medizinische Leiter.

Denn nachdem in Wendgräben anfangs vorwiegend spielsüchtige Erwachsene behandelt wurden, sind es inzwischen auch mehr und mehr onlinesüchtige Teenager. „Die Tendenz ist steigend. Leider. Vier bis fünf sind es aktuell im Schnitt, die sechs, manchmal aber auch zwölf Wochen bei uns bleiben. Und es sind mehr Jungen als Mädchen“, so der Facharzt für Psychotherapeutische Medizin.

Die Schätzungen, wonach rund 800 000 Menschen in Deutschland onlinesüchtig sind, bezeichnet der Suchtexperte als „nicht verbrieft“. Er ist überzeugt: „Die Dunkelziffer ist deutlich höher.“ Bestätigen kann von Ploetz aufgrund seiner Erfahrungen, dass „am ehesten die Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen empfänglich für die Onlinesucht ist“. Und dass bei der Abhängigkeit von sozialen Netzwerken wie Facebook und Instragram vor allem junge Mädchen und Frauen betroffen sind. Dagegen verfallen Jungs und junge Männer eher dem Onlinespielen oder Cybersex.

Das „Daddeln“ war auch bei Alex die „Einstiegsdroge“. Es war ein schleichender Prozess, bis er sich bei seiner Flucht ins Spieleparadies des „World Wide Web“ verlor. „Erst waren es zwei, drei Stunden nach dem Unterricht. Dann wurde auch zwischendurch in der Schule auf dem Handy gespielt.“ Später kamen sechs Stunden im Netz zusammen. „Am Ende habe ich sie nicht mehr gezählt. Zehn vielleicht. Zwölf? Ich weiß es nicht.“ Beim Abtauchen in die virtuelle Welt hatte der Junge das Gefühl für Zeit und Raum verloren. Essen, Schlafen, Freunde, Familie, Schule ... alles wurde zur Nebensache: „Mir war die Welt da draußen egal, Hauptsache, ich konnte ins Netz, surfen, chatten, spielen.“

Die Eltern wurden erst hellhörig, als Alex sich immer öfter in seinem Zimmer einschloss und er müde und ausgepowert wirkte. Doch alle Warnungen wurden irgnoriert. Als der Vater schließlich Handy, Laptop und Tablet konfiszierte und das WLAN kappte, war das für den Sohn der Super-Gau: „Das war doch alles, was ich hatte.“ Als die Entzugserscheinungen (innere Unruhe, Schweißausbrüche, Schlafstörungen, Gereiztheit) überhandnahmen, verlor er die Kontrolle, ging auf den Vater los. Die Polizei musste kommen.

Für den Klinikchef ist der 14-Jährige der klassische Onlinesüchtige: „Wenn jemand nach Feierabend noch fünf Stunden am Computer spielt, sich trotzdem weiter mit Freunden trifft, die Partnerschaft nicht leidet und er leistungsfähig ist, gibt es keinen Grund zur Sorge.“ Doch wenn das Internet wie bei Alex das ganze Leben dominiert und dadurch psychische, körperliche und soziale Beeinträchtigungen entstehen, so von Ploetz, „wenn diese Menschen also quasi online leben, dann ist das pathologisch, dann sind sie onlinesüchtig“.

Bei Verhaltenssüchten werde wie bei Drogenkonsum auch das Gehirn mit Glückshormonen wie Serotonin oder Dopamin geflutet. Dadurch wird die körpereigene Produktion der Hormone gedrosselt. Normale Reize wie Essen oder Zärtlichkeit „kitzeln“ das Hirn immer weniger. Andererseits werden jene Gehirnbahnen, die auf den Drogenreiz ansprechen, bei häufiger Benutzung erweitert. Auf Handy, Tablet etc. bezogen bedeutet das: Um etwas zu empfinden, ist eine häufigere Nutzung nötig. Genau hier, im Belohnungszentrum, setzt in Wendgräben die ganzheitliche Behandlung an. Die Onlinesüchtigen werden dort abgeholt, wo die Sucht entstanden ist. Mit Hilfe verschiedenster Therapien werden Brücken gebaut, die sie vom virtuellen zurück ins reale Leben führen. „Handy, Fernseher, Radio sind hier tabu. Stattdessen werden abends die Gesellschaftsspiele rausgeholt. Und darüber reden, das hilft auch“, sagt Alex.

Doch nicht nur die Einzel- und Gruppengespräche sind aus Sicht der Therapeuten und Mediziner wichtig, sondern auch die Einbeziehung des Umfeldes. „Ohne dass sich auch die Eltern gesprächsbereit zeigen, ihr eigenes Verhalten auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls ändern, hat das Ganze keinen Sinn“, betont von Ploetz.

Bei Alex klappt das ganz gut. Alle ziehen an einem Strang. Bei der Problemerkennung und -bewältigung helfen ihm die von einem vietnamesischen Großmeister gelehrte Atemtechnik Noi Gong und die Bewegungslehre Qi Gong. Und er liebt die Besuche auf den Reiterhof. Ganz langsam fängt er wieder an, zu leben, sich zu spüren. Doch ein Leben ohne Handy, ohne Computer, „nein, das kann ich mir trotzdem noch nicht vorstellen“.

Muss er auch gar nicht, so von Ploetz, denn es sei der falsche Weg, das zu verdammen: „Unsere Welt ist digital, und sie wird es immer mehr. Wichtig ist, eine gesunde Balance zu halten. Vor allem die Kinder müssen das lernen. Ich plädiere deshalb für ein Unterrichtsfach, das sie lehrt, wie sie richtig und sinnvoll mit Handy, Computer & Co. umgehen.“

*Name geändert