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Die Spitzenfrau der Linken kann nicht loslassen: Die Partei, das Fahrrad und ihr Wohnviertel. Petra Sitte: "Hier verliere ich nicht die Erdung"

Am 22. September wird ein neuer Bundestag gewählt. Die Volksstimme
stellt die Spitzenkandidaten der Parteien vor. Diesmal: Petra Sitte, Die
Linke.

Von Jens Schmidt 28.08.2013, 03:15

Halle l Da, wo Petra Sitte wohnt, ist nicht immer alles niet- und nagelfest. Nicht, dass viel geklaut würde. Kriminell ist nur der bauliche Zustand so mancher Häuser in der Landsberger Straße. Zum Beispiel bei dem Flachbau in der Nachbarschaft. Eines Tages fegte ein kräftiger Wind durchs Viertel, hob das Dach des Flachbaus hoch und ließ es auf der Straße wieder runterkrachen. Genau dort, wo zwei Autos parkten. Eines davon gehörte Petra Sitte. Ein Mitsubishi Colt. 120 PS. Es rauchte gewaltig.

Das ist eine Weile her. Ein neues Auto hat sich Petra Sitte nicht wieder gekauft. Sie stieg aufs Fahrrad um. Und fährt im Jahr bis zu 6000 Kilometer. Auch aus gesundheitlichen Gründen. "Vor 20 Jahren hatte ich 20 Kilo mehr", gesteht sie.

Das Viertel in Halles mittlerem Osten ist schrill. Ein Meer roter Ziegelsteine, grellbunte Graffiti, verrammelte Kneipentüren, fein sanierte Toreinfahrten, verlassene Mehrgeschosser mit dunklen Fensterlöchern. Alles dicht nebeneinander. Andere in Petra Sittes Gehaltsklasse würden vielleicht sagen: Da wohnen? Kannst du vergessen. Petra Sitte nennt ihr Zuhause ein "vergessenes Viertel". Noch hat kein Investor die Gegend entdeckt und die Gebäude durchsaniert. Petra Sitte findet das gut so. Seit mehr als zwanzig Jahren wohnt sie da und sie will nicht weg. Als mal das Wasser einfror, wechselte sie zwar die Wohnung, nicht aber das Viertel. "Klar könnte ich auch in so einer geleckten Gegend wohnen. Doch ich finde es hier spannender. Außerdem verliere ich hier nicht die Erdung."

Petra Sitte kann ohnehin nicht so einfach loslassen. Sie hält Dingen die Treue, denen andere längst den Rücken gekehrt haben. Ihre Partei gehört dazu. 1990, mit knapp 30, hatte sie kurz daran gedacht, das Mitgliedsbuch hinzuschmeißen. Als dann aber an ihrer Uni Austrittslisten kursierten, auf denen ihre Hochschullehrer reihenweise unterschrieben hatten, war sie entsetzt. "Viele hatten mir noch in den Jahren und Monaten zuvor die Ewigkeitsgarantie des Sozialismus begründet." Eine Flucht, ohne mal in den Spiegel zu schauen - Petra Sitte war enttäuscht. Sie blieb also in der Partei. "Anfangs auch aus Trotz." Dann auch aus Überzeugung. Die SPD ist ihr jedenfalls keine Alternative. Hartz IV, Niedriglohnsektor, Leiharbeit. Sie findet das abschreckend. Zudem missfällt ihr der innerparteiliche Stil bei den Sozialdemokraten. Da wird oft durchregiert. Das erinnert sie an früher. In der PDS wurde mehr debattiert. Wegen früher. Petra Sitte fand, dass sich die SPD von sich selbst entfernte. "Steffen Reichert, von der SPD in Brandenburg, und früher dort Wissenschaftsminister, sagte mir mal: ¿Frau Sitte, Sie würden aber auch einen guten Sozialdemokraten abgeben.\' Ich sagte ihm: \'Mag sein ... Sie aber auch.\'"

Petra Sitte wuchs in Dresden auf. Die Stadt steckt bis heute tief in ihrer Seele. Das neu erwachte Altstadtviertel mit der Frauenkirche darin findet sie wunderschön. "Wenn ich mal in die Stadt komme, kribbelt es im Magen."

Geschwister hatte sie keine, was sie bedauert. "Doch ich hatte immer viele Kinder um mich, weil ich in einen Wochenkindergarten ging." Sie selbst hatte sich auch Kinder gewünscht. Es blieb beim Wunsch. Ihr Freund wohnt im westfälischen Münster, sie in Halle - jeder hat sein Reich. Über Politik wird wenig gesprochen, wenn sie sich sehen. "Er will doch nicht noch ,ne Rotlichtbestrahlung", witzelt Sitte.

"Sie würden auch einen guten Sozialdemokraten abgeben ..."

Nach Halle kam Petra Sitte durchs Studium Ende der 1970er Jahre. Die im Krieg unzerstörte Stadt erlebte ihre große Zerstörung nach dem Krieg. Die DDR hatte ein Wohnungsbauprogramm, sie hatte aber nicht viel übrig für die alten Häuser aus Kaisers Zeiten. "Im Studentenwohnheim habe ich in der ersten Nacht geheult", erzählt sie. Doch ihre Hoffnungen waren größer als die Zweifel. Die DDR war ihr Staat, sicher würden seine Schwächen eines Tages ausgemerzt. Millionen andere hatten diese Zuversicht verloren oder nie besessen. 1989 wurde die SED vom Thron gestoßen.

Aber schon im Sommer 1994 durfte die Partei, die nun PDS hieß, wieder mitmischen. Reinhard Höppners SPD-Minderheitsregierung machte es möglich. Er brauchte auch die Stimmen der Opposition. Die nationale Aufregung war groß. "Ich kann das verstehen", sagt Sitte heute. Die Bundestagswahl stand vor der Tür. Es war die letzte, die Kohl gewinnen würde. Sein Partei-General Peter Hintze ritt die unvergessene Rote-Socken-Kampagne.

Sitte fiel im Landtag durch ihre Exaktheit auf. Jede Rede war eine kleine Hausarbeit. Fachleute schätzen bis heute ihre akademische Tiefe. Doch dem breiten Publikum ist die Kost oft zu schwer. Dabei kann Sitte manuskriptfrei reden. Meist sogar besser. "Ich weiß", seufzt sie. "Wulf hätte mir am liebsten manchmal die Zettel weggezogen." Wulf Gallert war damals ihr Geschäftsführer in der Landtagsfraktion und wurde 2004 ihr Nachfolger.

"Ich will perfekt sein. Ich schäme mich zu Tode, wenn man mich bei einem Fehler erwischt." Diese kleine Angst und der Druck, zu jedem Thema etwas Griffiges sagen zu müssen, bewog Sitte, den Chefsessel in Magdeburg 2004 zu räumen. Im Bundestag kann sie sich nun ganz in die Wissenschaftspolitik stürzen. Bei mehr Ehrgeiz wäre wohl auch mehr drin.

"Ich möchte von Ihnen gerne intelligent bekämpft werden."

Vielleicht auch eine Rückkehr nach Sachsen-Anhalt, wenn da mal eine SPD-Linke-Regierung Frauen an der Spitze sucht? "Ich will keine Chefin mehr sein", winkt sie ab. Man kann auch ohne Regierungsamt viel bewegen. Dass nun fast alle für einen Mindestlohn sind, hält Sitte für eine der großen Leistungen der Linken in der Opposition.

Im Bundestag wird Sittes Truppe hart angefasst. Die Linke? Kaderpartei. Sitte will nichts wegwischen; kann aber nicht ausstehen, wenn ihre Partei aufs Vergangene reduziert wird. "Ich hab mal einem von der CSU gesagt: Ich möchte von Ihnen gerne intelligent bekämpft werden." Manchmal aber sind die Berge zwischen Preußen und Bayern, zwischen Ost und West gar nicht so hoch wie es scheint.

Bei der heiklen Frage, ob befruchtete menschliche Eizellen beim Verdacht auf eine schwere Erbkrankheit untersucht werden dürfen, hatten sich im Bundestag Politiker aller Lager zusammengetan und diese Untersuchungen legalisiert. Petra Sitte fand das gut. Sie war in dieser überfraktionellen Gruppe mit dabei. CSU-Ministerin Ilse Aigner auch. Und Peter Hintze.