Ein 22-Jähriger wird beim Sturz vom Baum schwer verletzt und von einem Bekannten 15 Stunden im Auto liegen gelassen. Von Andreas Stein Prozess: Die Tragödie von Klein Quenstedt
Philipp R. ist tot. Sein bester Freund erhängt sich drei Wochen später. Die Einwohner der Gemeinde Klein Quenstedt im Harzvorland trauern um zwei junge Leute, die noch leben könnten und wollen Gerechtigkeit - vor dem Landgericht.
Halberstadt/Magdeburg l Anfang Juni 2011. Es ist brütend heiß, eine Hitzewelle drückt aufs Land. Wer kann, verbringt die Zeit im Schatten oder kühlt sich beim Baden ab. Philipp R. hat die Erfrischung gleich hinter dem Haus: Im Garten der Familie in der Vorharzer Gemeinde Klein Quenstedt, nur ein paar Kilometer nordöstlich von Halberstadt, steht ein Schwimmbecken. Der 22-Jährige ist im Ort beliebt, lädt Freunde und Bekannte regelmäßig zur "Poolparty" ein.
So auch am Sonnabend, 5. Juni. Bereits am frühen Nachmittag kommen die Gäste, man sitzt im Pool, trinkt Biermixgetränke, hört Musik, erzählt. Mit dabei ist auch Steven G. - ein Gast, den Philipps Mutter Walburga R. (49) nicht so gerne sah. Er habe gerne geschnorrt, kam nur vorbei, wenn was los war. Aber ein richtiger Freund sei er nicht gewesen.
Anders Stefan und Sascha. Die beiden und Philipp waren "dickste Freunde" und in Klein Quenstedt auch als "Drillinge" bekannt. Am Ende dieses heißen Frühsommerabends sind nur noch Philipp und Steven G. da, Sascha ist bereits gegangen. Gegen Mitternacht bringen sie einer Bewohnerin des Ortes ein Geburtstagsständchen, räumen auf. Dann haben sie die fixe Idee, ein paar am Ortsrand zeltenden 13 bis 15 Jahre alten Jugendlichen einen Besuch abzustatten, sie zu "ärgern".
Es ist nach 1 Uhr, als die beiden leicht angetrunkenen jungen Männer mit dem Auto ankommen. Steven G. wirft Stöckchen ans Iglu-Zelt der schlafenden Jugendlichen. Philipp klettert währenddessen auf einen Baum, will mit einem Ast auf das Zeltdach wippen. Doch Philipp stürzt ab, wahrscheinlich bricht ein Ast in sechs Metern Höhe. Die Jugendlichen fahren hoch, sie hören einen dumpfen Knall und finden Philipp. Der 22-Jährige ist ohnmächtig. Steven G. kommt dazu, man kennt sich.
Was sie nicht wissen: Philipp ist schwer verletzt. Sechs Rippen sind gebrochen, das Brustbein gebrochen. Die Schüler wollen einen Arzt und Hilfe holen, doch Steven G. winkt ab: Philipp habe viel Alkohol getrunken und müsse lediglich seinen Rausch ausschlafen. Die Jugendlichen drehen eine Runde im Dorf, als sie zurückkamen, hieven sie den immer noch bewusstlosen Philipp auf die Rückbank seines Audi 80.
"Der dramatischste Fall, den ich in 15 Jahren meiner Tätigkeit hatte."
Friedel Wiesehöfer, Rechtsanwalt
Steven G. fährt das Auto in die Nähe seiner Wohnung und ging halb vier schlafen. Am nächsten Tag fährt er mit dem Fahrrad gegen Mittag zu seiner damaligen Freundin nach Halberstadt - ohne nochmal ins Auto zu schauen. Nachmittags schickt er Philipp SMS und versuchte, ihn anzurufen. Als das nicht funktioniert, meldet er sich bei Philipps fünf Jahre älterem Bruder Alexander und dessen Freundin.
18 Uhr findet sein Bruder Philipp tot im Auto. Die Obduktion der Gerichtsmedizin in Magdeburg ergibt, dass der 22-Jährige nicht an seinen Sturzverletzungen, sondern an einem Hitzschlag gestorben ist. Auch am Sonntag war es brütend heiß, die Sonne knallte aufs Auto, bis 45 Grad hätten die Temperaturen im Auto betragen.
Der Schock in Klein Quenstedt sitzt tief. Drei Wochen nach dem Tod Philipps hängt sich sein Freund Sascha auf. Warum? Hatte er Schuldgefühle, weil er die Poolparty schon eher verließ, seinen Freund Philipp und Steven G. allein ließ? Die Angehörigen und Freunde wissen es nicht.
Philipps Mutter Walburga R., seit 33 Jahren Kinderkrankenschwester, muss einen Monat nach dem Tod ihres Sohnes in psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, geht bis heute deshalb zum Arzt. Das Amtsgericht Halberstadt verurteilt Steven G. am 12. März 2012 wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 10 Euro.
Für die Polizei ist der heute 22-Jährige kein Unbekannter. Schon mehrfach kam der Tischlerlehrling mit dem Gesetz in Konflikt, hat im Bundeszen-tralregister drei Einträge wegen gefährlicher Körperverletzung, Diebstahls und Betruges sowie des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.
Philipps Familie hat den Tod des Sohnes, der so beliebt und erfolgreich war, bis heute nicht verwunden. Er absolvierte bei der Getriebe- und Antriebstechnik Wernigerode GmbH eine Ausbildung als Zerspanungsmechaniker, hätte die Lehre wegen guter Leistungen vorzeitig beenden können. "Philipp war sehr freundlich und zuverlässig, ein Muster-Azubi. Das ist eine große Tragödie", sagt Kai Aurin, Personalleiter der Schlote-Gruppe, der Volksstimme. Philipp wäre übernommen worden, hätte Karriere gemacht.
"Philipp war ein Muster-Azubi, freundlich und zuverlässig."
Kai Aurin, Personalleiter Schlote-Gruppe
Das Urteil ist ein Schock für Familie R. und die Dorfbewohner. 1200 Euro Geldstrafe für den Tod des Sohnes und seines besten Freundes? Damit mochten sich Walburga R. und ihr Sohn Alexander nicht abfinden. Sie waren bereits Nebenkläger im Verfahren vor dem Amtsgericht Halberstadt gewesen und legten nun Berufung gegen das Urteil ein. "Das ist der dramatischste Fall, den ich in den vergangenen 15 Jahren auf dem Tisch hatte", sagt Rechtsanwalt Friedel Wiesehöfer aus Halberstadt der Volksstimme.
Viele tragische Zufälle hätten zum Tod Philipps geführt, doch für Wiesehöfer greift die Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung zu kurz. Er plädiert auf Aussetzung mit Todesfolge, Paragraph 221 Strafgesetzbuch, Absatz 3. Darauf stünde eine Mindestfreiheitsstrafe von drei Jahren, somit wäre das Landgericht in Magdeburg zuständig. "Mein Sohn", sagt Walburga R., "ist nicht an seinen Sturzverletzungen gestorben. Steven hat mehrfach versagt, weil er verhindert hat, dass die Jugendlichen Hilfe holen und er es selbst trotz mehrmaliger Gelegenheit nicht getan hat", klagt sie an.
Gestern Vormittag verhandelten Richter Enno Bommel und zwei Schöffen im Landgericht Magdeburg die Berufung. "Wir müssen klären, ob es einen hinreichenden Tatverdacht für die Aussetzung mit Todesfolge gibt. Reicht es für eine Anklageschrift? Wenn ja, müsste der Prozess vor einer Schwurgerichtskammer vollkommen neu aufgerollt, alle Zeugen erneut befragt werden, so Bommel. Auch die Bindung an das Urteil des Amtsgerichts wäre passé.
In Anwesenheit von Familie und Freunden des verstorbenen Philipp verlas er die Zeugenaussagen der drei zeltenden Jugendlichen und gab Steven G. erneut Gelegenheit, sich zu äußern. Bereits im Prozess vor dem Amtsgericht hatte er umfangreiche Angaben gemacht, sich aber auch in Widersprüche verstrickt, was die Zeitabläufe und Details des Geschehens angeht. War Steven G. auch auf den Baum geklettert, wie er Angaben einer Bewohnerin Klein Quenstedts zufolge gesagt haben soll?
Warum, wie oft und wie lange telefonierte er nach dem Absturz mit Philipps Handy?
Warum hat er die schweren Verletzungen seines Freundes nicht erkannt, obwohl er bei der Freiwilligen Feuerwehr eine entsprechende Ausbildung erhalten hatte?
Warum war Steven G. der Meinung, Philipp sei sturzbetrunken, wenn er noch mit dem Auto zum Zeltplatz fahren konnte?
Alles Fragen, die gestern zur Sprache kamen, aber für Richter Bommel nicht entscheidend waren. Michael Bierwagen von der Staatsanwaltschaft Halberstadt und Verteidigerin Christel Schellin plädierten dann auch dafür, die Berufung zu verwerfen. Zwar sei der Fall pure Fahrlässigkeit, aber Steven G. könne nicht nachgewiesen werden, dass er den Tod Philipps bewusst in Kauf genommen habe. Der Angeklagte, während der ganzen Sitzung mit den Tränen kämpfend, entschuldigte sich nochmal bei den Angehörigen:
"Es tut mir wirklich leid, ich habe den Ernst der Lage nicht erkannt." Schon früher hätten er und der Tote viel Mist gebaut und Philipp habe im Auto geschlafen. Nie sei etwas passiert.
Richter Enno Bommel und die Schöffen sahen den Fall anders als Staatsanwaltschaft und Verteidigung. "Es geht nicht um Schuld oder Unschuld, sondern um einen hinreichenden Tatverdacht. Was Sie gemacht haben, wird mal zum Paradebeispiel für Inobhutnahme werden. Sie haben den Toten rein objektiv aus dem sicheren Umfeld herausgenommen", sagte Bommel zu G.
"Eine gerechte Strafe dafür kann es nicht geben."
Walburga R., Mutter des Toten
Wie die subjektive Einstellung G.s sei, müsse nun ein neuer Prozess klären, sagte Bommel - zur großen Erleichterung der Angehörigen. "Alles geht auf null", freute sich Bruder Alexander R. "Die Jungs kommen nicht wieder, eine gerechte Strafe kann es nicht geben", sagt Walburga R. "Aber hätten wir nichts tun sollen, bis das nächste Mal was passiert?"
Steven G. und Verteidigerin Schellin können nun Revision gegen Bommels Entscheidung einlegen. Ob sie das tun, konnten sie gestern noch nicht sagen.