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GEWALT in SACHSEN-ANHALT "Ich habe mich selten so sehr gedemütigt gefühlt": Wie Frauen aus Magdeburg und Halle gegen sexuelle Belästigung kämpfen

"Catcalls of Halle" und "Wir sehen hin" wollen mit Kreide und Instagram auf sexualisierte Gewalt in Sachsen-Anhalt aufmerksam machen. Denn viele Belästigungen und Vergewaltigungen werden gar nicht erst zur Anzeige gebracht. Was die jungen Frauen antreibt und wie sie ihren Platz auf der Straße zurückerobern wollen.

Von Samantha Günther Aktualisiert: 30.07.2021, 15:19
Sie wollen den Betroffenen ihren Platz auf der Straße zurückerobern -"Catcalls of Halle"
Sie wollen den Betroffenen ihren Platz auf der Straße zurückerobern -"Catcalls of Halle" Symbolfoto: picture alliance/dpa | Andreas Arnold

Magdeburg/Halle - "Gefühlt jedes Mal, wenn ich im Sommer mit dem Fahrrad über die Brücken an der B1 fahre, gaffen mich vereinzelte Autofahrer an, hupen oder pfeifen - egal, wie ich gekleidet bin", erzählt Bianca, welcher ein Deckname ist. Die "European Studies"-Studentin ist erst 23 Jahre alt und fühlt sich auf den Magdeburger Straßen unwohl. Egal ob Tag oder Nacht: Verbale sexuelle Belästigung, auch genannt "Catcalling", seien in der Landeshauptstadt Alltag.

Mit ihrer Geschichte und ihrem Empfinden ist Bianca nicht alleine. Viele andere Frauen, aber auch Männer, sind Opfer von sexueller Belästigung und Gewalt in Sachsen-Anhalt geworden. 2.224 erfasste Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gab es hierzulande ´laut der polizeilichen Kriminalstatistik 2020. Die Dunkelziffer soll jedoch weitaus höher sein.

Laut Bundeskriminalamt werden viele Belästigungen und Vergewaltigungen gar nicht erst zur Anzeige gebracht: Nach sogenannten Dunkelfeldstudien ist jede dritte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben von Gewalt betroffen - und dabei nicht nur von Partnerschaftsgewalt. Statistisch gesehen sind das mehr als 12 Millionen Frauen.

Leider finden viele Betroffene nicht den Mut oder gar die Kraft zu einer Beratungsstelle für Opfer sexualisierter Gewalt zu gehen.Zwei Anlauf- und Sensibilisierungsprojekte - "Catcalls of Halle" und "Wir sehen hin" - wollen den Opfern die Chance geben, zumindest anonym ihre Stimme zu erheben. Beide Stellen wurden von jungen Frauen aus Halle und Magdeburg initiiert. Ihr Kampf ist bunt, kreativ und emotional hart- mit Kreide und Instagram gegen ein gesellschaftlich tief verankertes Problem.

"Wir sehen hin – sexualisierte Gewalt stoppen" in Magdeburg

Janina Hofmann und Viola (Deckname) wollen nicht mehr wegschauen und schweigen: Während ihres Studiums in Magdeburg trafen die beiden Freundinnen auf mehrere Menschen, die bereits Opfer von sexualisierter Gewalt in der Landeshauptstadt geworden sind.

Eine Anzeige erstatteten die Betroffenen nicht. "Teilweise taten ihr Umfeld oder gar sie selbst die Erfahrungen als unbedeutend ab, da sie ja 'alltäglich' seien", so die jungen Frauen gegenüber der Volksstimme. Die beiden Aktivistinnen wurden bereits selbst mehrmals in unterschiedlicher Form Opfer von sexualisierter Gewalt.

"Teilweise taten ihr Umfeld oder gar sie selbst die Erfahrungen als unbedeutend ab, da sie ja 'alltäglich' seien."

Viola und Janina

So entstand ihr Projekt "Wir sehen hin - sexualisierte Gewalt stoppen" in Form der Instagram-Seite @wirsehenhin_md und der zugehörigen Website zur Hilfe und zugleich Selbsthilfe. Seit Juli 2021 veröffentlichen dort Viola und Janina eingesendete Erfahrungsberichte sowie zusätzliche Infos über die polizeiliche und gesetzliche Lage in Magdeburg und Sachsen-Anhalt. 

Weiter erklären sie: "Es ist uns eine Herzensangelegenheit, für mehr Sensibilisierung bezüglich der erschreckenden Verbreitung von sexualisierter Gewalt zu kämpfen." Den beiden ist Magdeburg ans Herz gewachsen: "Wir möchten uns in dieser Stadt frei bewegen können, ohne aufgrund unseres Geschlechts oder unserer sexuellen Orientierung eingeschränkt zu sein."

Bisher 30 Erfahrungsberichte aus Magdeburg

Bis jetzt haben Viola und Janina über 30 Erfahrungsberichte gesammelt, die nach und nach auf dem Instagram-Account @wirsehenhin_md veröffentlicht werden. Eine wahre Geschichte aus dem Alltag in Magdeburg stammt von Vanessa, deren Name ebenfalls geändert wurde. "Ich wohne in Neue Neustadt und beim Heimlaufen wird man als Frau nachts immer angesprochen. Meist sind es betrunkene Männer – auch am Hassel, in der Tram oder im Bus", berichtet die 22-Jährige.

Die eingetroffenen Nachrichten der Opfer sind wahr, emotional und schockierend: "Am meisten hat uns die Geschichte eines jungen Mannes beschäftigt, der am helligten Tag an einer Fußgängerampel von einem anderen Mann gewürgt wurde – ohne, dass Umstehende eingegriffen hätten", erzählen die Magdeburgerinnen. Zudem sei eine Frau, die jahrelang missbraucht wurde an die beiden herangetreten.

"Bis jetzt haben wir durchweg positive Reaktionen erhalten. Wir haben mit negativen Kommentaren gerechnet, aber bis jetzt kamen nur unterstützende Kommentare und Meinungen, auch hin und wieder die Bekräftigung, wie wichtig das Thema sei", berichten die Studentinnen.

Kooperationsanfragen von anderen Initiativen

Die beiden betonen aber, dass sie keine direkte Hilfe für Opfer sexualisierter Gewalt anbieten können. In erster Linie möchten sie jedoch Sprachrohr für die Betroffenen sein und Aufmerksamkeit auf das Thema lenken. Es seien dennoch bereits einige Kooperationsanfragen von anderen Initiativen eingetroffen und auch ihr Projekt-Team vergrößert sich langsam.

"Wir freuen uns sehr über die positive Resonanz. Es zeigt, wie sehr ein solches Projekt in Magdeburg gefehlt hat und wie groß das Bedürfnis der Betroffenen ist, sich mitzuteilen", so die Initiatorinnen.  Sie hoffen, Anstoß geben zu können für Veränderung, für weitere Initiativen, für mehr Diskurs und dadurch vielleicht am Ende für mehr Sicherheit: "Wir wissen, dass es ein langer Weg ist, aber irgendwo und irgendwann muss man anfangen – für uns ist dieser Zeitpunkt jetzt."

"Catcalls of Halle" kämpft mit Kreide gegen sexuelle Belästigung

Bisher ist "Catcalling" in Deutschland nicht strafbar. Dies soll die Petition "Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar sein" ändern. Ein entsprechendes Gesetz gibt es bereits in Frankreich. Dort wird Catcalling seit 2018 mit einem Bußgeld bestraft.

Damit dem Thema Catcalling mehr Aufmerksamkeit in Halle gewidmet wird, hat Cara Kather die Aktion "Catcalls of Halle" ins Leben gerufen. Seit Februar 2021 kreidet die 20-jährige Studentin diese Form der sexuellen Belästigung an - im wahrsten Sinne des Wortes. 

Auf ihrem Instagram-Account können Betroffene via Direktnachricht ihre Geschichte schildern. Daraufhin geht Cara oder ein Projektmitglied an Ort und Stelle der Belästigung und schreibt dort die Sprüche mit Straßenmalkreide auf die Straße. "Geiler Arsch", "Dich würde ich auch mit nach Hause nehmen" oder "Hey willst du nen Dreier" - die Zitate der Beleidigungen sind hart. Die Ankreidungen sorgen häufig für neugierige Blicke. 

Der Mitteldeutsche Rundfunk hat die junge Studentin dabei begleitet. "Manche Leute lachen und sagen 'Das ist doch keine Belästigung!' Dann gehen sie weiter, noch bevor man mit ihnen ins Gespräch kommen kann", erzählt Cara im MDR-Interview.

Anschließend macht sie ein Foto und lädt es auf ihrem Instagram-Account "catcallsofhalle" hoch. Pro Woche melden sich etwa drei Personen und erzählen von ihrer Erfahrung. Mittlerweile folgen der Initiative 1.687 Abonnenten. "Mädels, die nicht in Halle wohnen, sollten schauen, wo es in ihrer Nähe ein Catcall-Projekt gibt. Und wenn es keines gibt, dann gründet eins. Das ist als Aufforderung zu verstehen", fordert die Studentin.

Seinen Anfang genommen hat die Bewegung der Catcalling-Accounts 2016 in New York mit der Aktivistin Sophie Sandberg. Mittlerweile gehören dem Dachverband "Chalk Back" Instagramprofile aus 150 Städten an - in Kairo, Kenia, London und nun auch Halle.