Erfolgsroman „Blutbuch“ von Kim de l'Horizon feiert am Theater Magdeburg Premiere
Mit der Inszenierung des Erfolgsromans „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon fordert das Theater Magdeburg sein Publikum heraus und lässt es wie elektrisiert zurück.
Magdeburg - Das Magdeburger Schauspiel ist auf der Höhe der Zeit. Vor wenigen Wochen erst fand die deutsche Erstaufführung von „Blutbuch“ in Hannover statt. Kim de l’Horizon erhielt für den Roman den Deutschen und den Schweizer Buchpreis. Jetzt hatte das Stück auch am Theater Magdeburg in einer eigenen Fassung Premiere – und ist eine wahre Wucht geworden.
Als bei der Großmutter die Demenz einsetzt, beginnt Erzählfigur Kim, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Warum ist die Großmutter immer so hart gewesen? Warum ist die Distanz des Kindes zur Mutter so groß? Und welche Traumata hat die Familie Kim vererbt?
Film und Spiel ergänzen sich in „Blutbuch“ am Theater Magdeburg
Regisseur Jan Friedrich, der in der vergangenen Spielzeit in Magdeburg „Woyzeck“ inszenierte, ist es gelungen, den Roman zum Leben zu erwecken. Die Vorlage wirkte bei aller kreativen Energie und sprachlichen Vielseitigkeit manchmal ziellos. Die Straffung hat dem Stoff gut getan, ebenso die Entscheidung, keinen Monolog daraus zu machen. Jedes der sieben Ensemblemitglieder spielt Hauptfigur Kim, oft zeitgleich, was die vielen Facetten des Charakters auf simple Weise verdeutlicht.
Die Geschichte ist Autofiktion, also irgendwo zwischen den Erlebnissen der echten Person und Erfundenem. Das Magdeburger Ensemble spiegelt das und trägt das gleiche Glitzer-Flausch-Outfit, das de l’Horizon zur Verleihung des Deutschen Buchpreises anhatte. Sie tanzen, sie singen, sie schreien, sie sezieren Schicht für Schicht Kims Identität.
Die Magdeburger Inszenierung fordert das Publikum heraus. Es ist eben nicht leicht, sich selbst zu ergründen. Man begibt sich mitunter in Abgründe. Schauspielerin Carmen Steinert glänzt als Kind, welches unter dem Druck leidet, sich für ein Geschlecht entscheiden zu müssen, und welches das Gefühl hat, dass der eigene Körper nicht einem selbst gehört. So flüchtet das Kind zur Blutbuche im Garten, von deren Magie es sich Befreiung erhofft. Aber die lässt noch lange auf sich warten.
Die Erinnerungen der Hauptfigur an ihre Kindheit sind auch ästhetisch im wahrsten Sinne des Wortes ein Horrorfilm. Mit einer Videokamera filmen die Mitglieder des Ensembles sich während der Aufführung selbst. Die Bilder laufen auf einem weißen Vorhang aus Fäden, der die Bühne in Vergangenheit und Gegenwart teilt. Film und Spiel fließen mühelos ineinander. Videokünstler Nico Parisius hat in Magdeburg ganze Arbeit geleistet.
Waldrave in „Blutbuch“ von Kim de l'Horizon mit Folgen
Einer der intensivsten Momente ist ein derbes Sexdate auf einem Rave im Wald. Das Stück ist sexuell enorm explizit, zumindest sprachlich, weshalb das Theater es erst ab 16 Jahren empfiehlt. Die Szene zeigt, dass auch die reflektiertesten Menschen nicht frei von Vorurteilen sind. Von Geschlechterrollen weitgehend befreit, wohnen Kim Rassismus und Klassendünkel weiter inne.
Die Kämpfe, in denen sich die Hauptfigur in „Blutbuch“ abmüht, sind universell. Bei aller Ernsthaftigkeit ist die Inszenierung auch äußerst humorvoll. Etwa in der rasanten Szene, in der Kim als volljähriger Mensch in die Großstadt zieht und mit Discomuskeln und Sixpack nach einem übermännlichen Schwulsein giert.
Schlussendlich ist „Blutbuch“ ein mutiges, elektrisierendes und lebensbejahendes Stück für alle, die mit der Frage hadern, warum sie so sind, wie sie sind. Und geht es nicht allen so – zumindest manchmal?