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Bismarck-Vize aus dem Harz hat entscheidenden Anteil an Sozialgesetzen im Deutschen Reich Rente, eine Erfindung aus Sachsen-Anhalt

Von Tom Koch 02.04.2012, 03:24

Einen Monat lang hat sich die Volksstimme intensiv und umfassend mit der Renten-Thematik befasst. Zum Abschluss dieser Serie ein historischer Rückblick, der verdeutlicht: Die Rente ist eine Erfindung aus Sachsen-Anhalt.

Wernigerode l Der überdimensionale Spiegel und der prächtig verzierte Kamin prägen das Arbeitszimmer von Graf Otto im Wernigeröder Schloss. Der große Schreibtisch wirkt hingegen auf die Besucher wenig repräsentativ.

Und doch atmet dieses Möbelstück weit mehr als einen Hauch von Geschichte. Dass im deutschen Kaiserreich in den 1880er-Jahren Kranken- und Unfallversicherungen und Pensionskassen für die Arbeiter eingeführt werden, ist ein Verdienst des Politikers aus Wernigerode.

Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode war von 1878 an für drei Jahre als Stellvertreter des Reichskanzlers Fürst Bismarck tätig. Man mag meinen, nur eine Episode im abwechslungsreichen Polit-Leben des Stolbergers. Zumal historische Quellen von häufigen Konflikten zwischen beiden Politikern im Kaiserreich zu berichten wissen.

Dennoch nutzte der Vizekanzler Bismarcks dessen energischen innenpolitischen Kampf gegen den aufkommenden Einfluss der Sozialdemokratie, um reichsweit soziale Reformen einzuführen. Der Stolberger konnte sich dabei der Traditionen seines Hauses und eigener Erfahrungen bedienen.

Im Volksstimme-Gespräch verweist Schlossdirektor Christian Juranek auf das Jahr 1873. Zu dieser Zeit gründete Graf Otto eine "Gräflich Stolberg-Wernigeröderische Arbeiter-Kranken-Kasse". Das war eine Pflichtkasse für alle Arbeiter, die nach zweijähriger Probezeit mindestens drei Monate eines Jahres in seinen Diensten tätig waren. Das Besondere daran, so Juranek, bereits damals finanzierten Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu gleichen Teilen diese Sozialkasse, die zudem paritätisch von drei Beamten des Fürstenhauses und drei von der Arbeiterschaft benannten sogenannten Sprengel-Ältesten geführt wurde. Diese Prinzipien gelten noch heute für die Sozialversicherungen in Deutschland.

Diese Kranken- und Pensionskasse hatte mit der "General-Büchsen-Kasse" aus der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Vorgängerin, bei der die Arbeiter zwar die alleinige Pflicht zum Einzahlen, aber keinerlei Mitsprache an der Verwaltung hatten. In der Grafschaft Wernigerode gab es nachweislich bereits ab 1717 so etwas wie eine Rentenversicherung, eine "Invalidenkasse für die in den Waldungen beschädigten Holzhauer". Sie wurde wohl auch deshalb gegründet, um die gräflichen Kassen zu entlasten, aus denen zuvor die medizinische Versorgung jener verunglückten Waldarbeiter finanziert wurde, die es sich nicht leisten konnten.

Dass das Haus Stolberg-Wernigerode ein großes soziales Engagement zeigte, habe seine Wurzeln in seinem christlichen Weltbild: "Der Glaube allein ohne christliche Nächstenliebe ist blind", erklärt Juranek. In diesem Zusammenhang ist es mehr als bloß erwähnenswert, dass das Grafenhaus 1847 eine Art Kindertagesstätte ins Leben rief. In dieser "Kinderbewahranstalt" fanden seinerzeit 16 drei- bis sechsjährige Kinder Platz, das eröffnete ihren Müttern die Möglichkeit, ihrer Arbeit nachzugehen. Es gab zudem Unterstützungszahlungen für Wöchnerinnen und eine "Mädchen-Fortbildungsschule" mit einem monatlichem Verdienst, von dem die Hälfte für die Zeit des Ausbildungsjahres auf einem Sparkassenbuch fest angelegt wurde. Alle diese sozialen Leistungen sollten die Arbeiter an das Grafenhaus binden, ihnen ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln, heißt es in einer Diplomarbeit von Kathrin Schröder.

Darin ist auch nachzulesen, dass anfangs speziell die Forstleute eine Pflicht zur Kranken- und Pensionsversicherung massiv ablehnten. Es gab tatsächlich etliche Kündigungen, nachdem von der gräflichen Regierung die Beitrittsaufforderung ausgesprochen worden war, allein in der Domäne Schmatzfeld von immerhin einem Drittel der Arbeiter.

Vom Harz zurück in die Reichshauptstadt Berlin: Bismarck versuchte die erstarkende Arbeiterbewegung mit den Sozialistengesetzen zu bekämpfen. Graf Otto hatte dieses Gesetz in den Reichstag einzubringen, Zeitgenossen wollen beobachtet haben, dass der Stolberger "wenig kämpferisch" aufgetreten sei, Bismarck deutete diesen Auftritt gar als Kritik an seiner Politik. Otto zu Stolberg-Wernigerode hatte nämlich gegenüber dem Reichskanzler nicht nur einmal erklärt, es genüge nicht, die Sozialdemokratie niederzuhalten, auch müsse der Staat positiv auf die Lage der Arbeiterschaft wirken. Nicht allein deswegen, auch um die Herrschaft von Monarchie und Adel in Deutschland zu manifestieren.

Graf Otto verfasste eine Schrift über die "sozialpolitische Reformaufgabe der Regierung", erhielt für seine Ideen ausnahmlos Zustimmung aus dem Ministerrat und verfasste im Auftrag des Kaisers einen Gesetzentwurf "Über die Versicherung von Arbeitern gegen Unfälle". Obwohl sein Rücktrittsgesuch wegen unüberbrückbarer Differenzen mit dem Reichskanzler 1881 angenommen wurde, gab es für Bismarck keine politische Alternative: 1883 führte er im Deutschen Reich die Krankenversicherungspflicht ein, 1884 und 1889 folgten die Unfall- und die gesetzliche Rentenversicherung.

Ist die Rente wegen Graf Otto zu Stolberg-Wernigerodes zahlreicher Initiativen eine Erfindung aus Sachsen-Anhalt? Schlossdirektor Juranek: "Verdienste daran haben viele, auch Unternehmer aus dem Ruhrgebiet. Wer sich allein auf das Engagement von Graf Otto beschränkt, der kann mit Ja antworten." Seite 4