Landgericht Halle hebt Unterbringungsbefehl im Maßregelvollzug Uchtspringe gegen 26-Jährigen im Wiederaufnahmeverfahren auf "Stimmen im Kopf" erfunden: Mann sieben Jahre zu Unrecht in "Geschlossener"
Halle/Uchtspringe l Ein heute 26 Jahre alter Mann aus Gräfenhainichen (Kreis Wittenberg) hat sieben Jahre zu Unrecht hinter den Gittern des Maßregelvollzugs für kranke Straftäter in Uchtspringe (Kreis Stendal) gesessen. So urteilte gestern die 6. Große Strafkammer des Landgerichts Halle in einem Wiederaufnahmeverfahren.
Der Fall ist kurios. Auch deshalb, weil Tristan H. selbst Anteil daran hat, dass er 2004 wegen "paranoider Schizophrenie" in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen worden war und im Landeskrankenhaus längere Zeit wegen dieser seelischen Störung therapiert wurde.
Gutachter Egbert Held, damals Psychiater in Uchtspringe, hatte den 18-Jährigen, der wegen räuberischer Erpressung und Diebstahls in Untersuchungshaft saß, untersucht und festgestellt, dass H. an "paranoider Schizophrenie" leidet. Sein Gutachten war für das Dessauer Landgericht ausschlaggebend, den jungen Mann am 7. Juli 2004 zu zwei Jahren Jugendhaft zu verurteilen. Die 2. Große Strafkammer berücksichtigte dabei die "seelische Krankheit" und billigte Tristan H. verminderte Schuldfähigkeit zu. Das brachte dem Deliquenten die Unterbringung in der "Geschlossenen" ein.
Von H. gewollt, wie gestern deutlich wurde. Er ließ während des Wiederaufnahmeverfahrens vorm Landgericht Halle die Katze aus dem Sack. Er habe die ganze Sache geplant und dem Gutachter "etwas vorgespielt". Auf die Idee gekommen sei er während der Untersuchungshaft. In einem "Beratungskreis" sei er von Mitgefangenen gefragt worden, ob er wirklich so dumm sei und in den Knast wolle. "In Uchtspringe sind Betten und Essen besser, außerdem die Lage, hat man mir gesagt." Und weil er als Patient in der Wittenberger Kinder- und Jugendpsychiatrie Jahre zuvor bereits Erfahrungen gesammelt habe, sei es ihm nicht schwer gefallen, "den Gutachter zu überzeugen".
Held passten dann sowohl die Diagnose der Wittenberger Bosse-Klinik als auch die Angaben während seiner ärztlichen Befragung ins Krankheitsbild. Und H. hatte sich auch wirklich Mühe gegeben. So wartete er mit "Stimmen im Kopf" auf. Eine davon habe seiner tödlich verunglückten Freundin gehört, mit der er sich - besonders nach Drogengenuss - angeregt unterhalten habe. Während des Überfalls auf einen Rentner, dem H. gemeinsam mit einem Kumpel die EC-Karte wegnahm und von dem Alkoholiker die PIN erpresste, habe ihm eine andere Stimme sogar befohlen, seinen Mittäter umzubringen. Wovon er jedoch Abstand genommen habe. Die Stimme des "Finanzberaters" sei ebenfalls sein ständiger Begleiter gewesen: "Du bist der Einzige in deiner Familie, aus dem nichts geworden ist." Doch gestern gab H. zu, Drogenkonsum vor der Tat und Stimmen erfunden zu haben.
Der Mann aus Gräfenhainichen kam nach Uchtspringe. Doch seine Freude über den gelungenen Coup währte nicht lange. Denn nach einiger Zeit bekam er mit, dass er sich ins eigene Fleisch geschnitten hatte. "Niemand hat mir in der U-Haft gesagt, dass Maßregelvollzug open end ist." Die zwei Jahre Jugendhaft hätte er bereits 2006 abgesessen.
Erst ein externer Gutachter, Thomas Kasten aus Wandlitz, musste vor einigen Monaten kommen, um festzustellen, dass keine paranoide Schizophrenie vorgelegen hat, dass die Einweisungsdiagose eine glatte Fehldiagnose war. Dem schloss sich gestern die geballte psychiatrische Kraft von drei weiteren Seelenärzten beziehungsweise Therapeuten aus Uchtspringe an. Und selbst Erstgutachter Held musste einräumen, dass er "nach heutigem Kenntnisstand eine Einweisung nicht empfohlen" hätte.
Der Vorsitzende Richter Peter zu Nieden sprach in der Urteilsbegründung von einer "Schnapsidee" des Angeklagten. Doch ebenso deutlich nannte er die Unterbringung "eine glatte Falscheinweisung". Der Unterbrinungsbefehl wurde aufgehoben.
Entschädigt wird H. nicht. Das verbiete das Gesetz, wenn der Untergebrachte "vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt" habe. H. werden zwei Drittel der Jugendstrafe auf die Unterbringung angerechnet. Ob die 243 Resttage zur Bewährung ausgesetzt werden, muss die Strafvollsteckungskammer Stendal entscheiden.