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In der forensischen Landesklinik werden derzeit 193 Straftäter auf die Freiheit vorbereitet Vogelfrei im Maßregelvollzug Bernburg

Von Oliver Schlicht 15.08.2013, 03:12

Bernburg l Bewaffnete Wärter gibt es nicht. Nach drei Monaten Therapie erfolgt in der Regel der erste Freigang mit Krankenpflegerbegleitung. Ein Sicherheitsproblem hat die Klinik nicht, sagt die Leiterin des Maßregelvollzugs Bernburg.

Die Klinik für Forensische Psychiatrie am Stadtrand von Bernburg idyllisch zu nennen, ist keinesfalls übertrieben. Es gibt keine Zäune und Sicherheitsmauern. Der zweigeschossige Gebäudekomplex mit zehn Stationen liegt großzügig verteilt in einer frei zugänglichen Park- und Sportlandschaft. In den Innenhöfen der Stationen bauen viele Insassen Gemüse an, um dann gemeinsam zu kochen. Draußen führen Wege durch grüne Wiesen an Bäumen und Sträuchern vorbei. Ein Springbrunnen mit Sitzgelegenheiten plätschert, ein großes Fußballfeld, nebenan ein Volleyballplatz.

Dort wird gerade gespielt: zwei Männer, eine Frau. Drei andere Insassen spazieren gemeinsam zum Briefkasten hinüber zur Straße. Franko Herbich ist einer von ihnen. Er schimpft über die kürzlich Entflohenen: "Weil die weg sind, werden jetzt bestimmt die anderen bestraft. Dabei haut doch hier nur ganz selten jemand ab." Er selbst habe heute den ganzen Tag draußen gearbeitet. "Da hätte ich doch immerzu den Schwan machen können. Habe ich aber nicht", sagt er - und die anderen beiden schmunzeln.

Der Schlüssel klappert. Heike Mittelstedt, Ärztliche Direktorin der Landesklinik, schließt die Therapie-Werkstatt auf. Sie gewährt Einblick in die sauberen Räumlichkeiten. Kein Schwan, aber das Bild eines Spätzchens klebt dort am vergitterten Fenster. "Die Zahl der gewährten Freigänge mit und ohne Begleitung in unserer Klinik beträgt um die 50000 pro Jahr. Demgegenüber stehen 2013 bislang drei Vorfälle mit Patienten, die nicht wiedergekommen sind", sagt die Ärztin. Sie spricht von "Patienten", nicht von "Insassen".

Einer dieser Patienten war vor drei Wochen aus der Bernburger Klinik geflohen und hat versucht, in Wien eine Frau zu vergewaltigen. Er wurde geschnappt und ist jetzt wieder ein Insasse. "Der Fall hat uns wirklich Kopfzerbrechen bereitet. Wir haben beantragt, den Maßregelvollzug außer Kraft zu setzen", erzählt die Ärztin. Das heißt, der Mann wandert - nach einem entsprechenden Gerichtsbeschluss - trotz Suchtproblem wieder in den Strafvollzug zurück.

Ordnen die Gerichte eine Freiheitsstrafe mit Maßregelvollzug an, sind sie der Auffassung, dass die begangenen Taten ursächlich mit den gesundheitlichen Problemen des Angeklagten zu tun hatten. Dann kommt der Verurteilte nach einer ersten Zeit im Strafvollzug nach Bernburg. "Das geschieht in der Regel so, dass der Verurteilte die etwa zweijährige Maßregelvollzugszeit beendet, wenn zwei Drittel seiner Gesamthaftstrafe um sind", erklärt die Ärztin.

Auf Antrag kann ein Gericht dann die Aussetzung der Reststrafe beschließen, so dass - im besten Fall - der therapierte "Patient" aus dem Maßregelvollzug nach Hause entlassen wird. In eher seltenen Fällen muss der Klinik-Insasse wieder zurück in den Strafvollzug, weil er als nicht therapierbar eingeschätzt wurde. Überwiegend winkt aber nach der zweijährigen Maßregelvollzugszeit die Entlassung. Mittelstedt: "Ein Drittel bleibt etwa suchtfrei und wird nicht mehr kriminell. Ein weiteres Drittel nimmt wieder Drogen. Und ein Drittel wird zusätzlich auch wieder straffällig."

Derzeit betreut die Bernburger Klinik 193 Insassen - 179 direkt vor Ort, 20 sind "Probewohner", dass heißt, sie dürfen bereits zu Hause übernachten. Unter den Insassen sind auch viele Schwerverbrecher. "Etwa 20 wurden wegen Mord oder Totschlag verurteilt, 12 wegen Sexualstraftaten", so die ärztliche Direktorin. Nach einer Eingewöhnungszeit von etwa drei Monaten im Sicherheitsbereich der Klinik werden die Insassen nach einem Stufenplan Schritt für Schritt mit mehr Freiheit belohnt - sie können begleitet von Pflegern, in Gruppen und schließlich sogar allein durch das offene Parkumfeld der Klinik spazieren. "Am Ende können sie auch allein Ausflüge in die Stadt unternehmen", erzählt die Ärztin.

153 Pflegemitarbeiter kümmern sich um die Insassen. Ein privater Wachdienst ist überwiegend mit der Gebäudesicherung beschäftigt. Mittelstedt: "Ohne ausdrückliche Aufforderung durch die Pflegemitarbeiter haben sie nichts mit den Patienten zu tun." Die Pfleger und Krankenschwestern, die Freigänger begleiten, sind nicht bewaffnet - nicht einmal mit einem Schlagstock. "Es würde dem Geist des Maßregelvollzugs widersprechen, wenn bei den Freigängen eine Gewaltbedrohung bestehen würde", sagt die Ärztin. Und elektronische Fußfesseln? Mittelstedt überlegt kurz: "Fußfesseln anlegen zu lassen, könnte ich mir im Einzelfall vorstellen. Aber derzeit verbietet unser Landesgesetz den Einsatz von elektronischen Fußfesseln im Maßregelvollzug."

Draußen am Springbrunnen spiegelt sich die Nachmittagssonne im Wasser. Es gab schon Fälle, bei denen die Insassen bewusst gegen Therapieregeln verstoßen haben, um länger im Maßregelvollzug bleiben zu können, erzählt die Ärztin. Unglücklicherweise fühlen sich nicht alle Patienten der Klinik so verbunden.