Fall Inga Von der Polizei Stendal tief enttäuscht
Erstmals nach dem Verschwinden von Inga am 2. Mai 2015 auf dem Wilhelmshof bei Stendal gibt die Mutter der Volksstimme ein Interview.
Schönebeck l Bisher traten die Gehrickes nur einmal, im Jahr 2017, mit einem „Stern“-Interview in die Öffentlichkeit. Jetzt will Victoria Gehricke eine weitere Ausnahme machen. Matthias Fricke sprach mit ihr über den Fall.
Volksstimme: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie das erste Mal von dem Mordverdächtigen im Fall Maddie und möglichen Zusammenhängen im Fall Inga hörten?
Victoria Gehricke: Im ersten Moment war ich sehr erschrocken, meine Gedanken überschlugen sich. Es kam von damals alles wieder hoch. Aber dann habe ich gedacht, endlich gibt es wieder eine Chance, dass Ingas Schicksal doch noch aufgeklärt werden kann.
Doch nun ist eine Überprüfung von Zusammenhängen zwischen beiden Fällen schon wieder beendet. Was sagen Sie dazu?
Ich kann das ehrlich gesagt noch gar nicht glauben und habe davon auch erst am Wochenende aus den Medien erfahren. Besonders ärgert mich, dass offensichtlich gar kein Interesse besteht, nach möglichen Zusammenhängen zu suchen. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass gleich wenige Tage nach dem Überprüfen der Spur alles gleich wieder eingestellt wird. Das ist schon sehr merkwürdig. Es gibt schließlich einen Verdächtigen zu einem sehr ähnlichen Fall, der auch in Ingas Akte auftaucht. Dem muss weiter nachgegangen werden.
Welche Hoffnungen haben Sie?
Wenn der Fall Maddie endlich aufgeklärt wird, hoffe ich zunächst erst einmal, dass das Kind lebt. Vielleicht könnte dann auch noch ein Zusammenhang zum Verschwinden von Inga hergestellt werden. Ich bin von der Polizei in Stendal tief enttäuscht und wünschte mir, dass eine andere Polizeidienststelle im Fall meiner Tochter die Ermittlungen wieder aufnimmt.
Was ist Ihre Kritik?
In der Kürze der Zeit der vergangenen Woche können doch niemals alle Möglichkeiten abgeklärt worden sein. Mir persönlich ist es deshalb wichtig, dass bisher unbeteiligte, motivierte und erfahrene Kriminalisten sich die Spuren noch einmal genau ansehen. Vielleicht gibt es jetzt wenigstens durch die hohe Aufmerksamkeit im Fall Maddie noch Zeugen im Fall meiner Tochter.
Damals sind Beobachtungen vielleicht nicht als so wichtig erachtet worden, als es eine Flut von Hinweisen gab. Das könnte jetzt aber anders sein. Es ist ja auch möglich, dass sich damals ein möglicher Zeuge nicht traute und es jetzt dafür keinen Grund mehr gibt. Wir sollten alle die Hoffnung nie aufgeben, dass Maddie und Inga noch leben. Bis das Gegenteil bewiesen ist. Fälle wie Natascha Kampusch zeigen, dass entführte Kinder auch nach vielen Jahren wieder auftauchen oder wie in diesem Fall vor ihrem Peiniger flüchten können.
Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie nach mehr als fünf Jahren dieser Ungewissheit?
Meine Kinder und ich versuchen jeden Tag aufs Neue ein halbwegs normales Leben zu führen und uns gegenseitig zu trösten und zu ermutigen. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht an Inga denken. Und doch liegt auf unserer Zukunft ein dunkler Schatten, der sich aus dieser entsetzlichen Ungewissheit zusammenfügt.
Inzwischen haben Sie sich im Jahr 2017 von Ihrem Mann scheiden lassen. Ist das eine Folge davon?
Ja, das kann man so sagen. Ingas Verschwinden war für uns als Familie eine so kolossale Krise, dass es uns nicht gelang, so weiter zu leben wie bisher. Jeder von uns ist damit auch anders umgegangen. Bei mir führte es auch zu dem Entschluss mich nach langjähriger Ehe scheiden zu lassen.
Woran können Sie sich an jenen 2. Mai vor fünf Jahren vor allem erinnern?
Wenn es darauf ankäme, an alles. Ich erinnere mich in Wilhelmshof an einen friedlichen Ort, liebe Freunde, Sonnenschein und Kinderlachen. Und daran, wie binnen weniger Minuten eine Katastrophe über unser Leben hereinbrach. Wir waren drei Familien, sechs Erwachsene und neun Kinder, die zusammensaßen. Wir haben Kaffee getrunken, das Abendbrot vorbereitet, die Kinder spielten am Nachmittag Fußball, es war bis zu diesem einschneidenden Moment sehr schön. Wir hatten uns deshalb auch entschlossen, noch zum Abendbrot zu bleiben.
Dann war Inga plötzlich von einer Minute auf die andere weg. Was dachten Sie, was passiert sein könnte?
Ich hatte eigentlich schon vom ersten Moment an das Gefühl, dass irgendetwas ganz Schlimmes passiert ist. Dass Inga sich im Wald verlaufen hat oder etwas austesten wollte, war damals bei mir nur so ein allererster Gedanke, eher eine Hoffnung. Danach gingen mir noch im Laufe der Jahre alle möglichen Theorien durch den Kopf. Alles, was man sich als gesunder Mensch vorstellen kann, habe ich durchdacht. Die harmloseste Variante ganz am Anfang, an die ich mich geklammert habe, war die, dass eine andere Mutter für einen erlittenen Verlust unsere Inga entführt hat. Da war meine Hoffnung, dass unsere Tochter irgendwann schnell gefunden und zurückgebracht wird. Später kamen dann in meinen Vorstellungen Schreckensszenarien dazu, die man eigentlich nur aus Filmen kennt.
Waren Sie jemals wieder in Wilhelmshof? Wenn ja, in welchem Zusammenhang?
Ich war in den folgenden Jahren jeweils am 2. Mai zwei oder drei Mal da, um an diesem Tag meiner Tochter nahe zu sein. Das ist aber mit jedem Jahr der Ungewissheit schwieriger für mich geworden. Ich habe noch sehr gut in Erinnerung, dass zu diesem Tag auch Andachten stattgefunden haben. Die Freunde und Bewohner wollten gemeinsam für Inga beten. Das ist mir auch positiv in Erinnerung geblieben. Ich muss aber sagen, je mehr Zeit vergangen ist, umso weniger war das eine Lösung für mich. Deshalb bin ich auch dort nicht mehr hingefahren.
Was ist aus den Kontakten von damals zu den anderen Familien geworden?
Sie waren einer extrem großen Bewährungsprobe ausgesetzt. Ich bin durch eine Zeit tiefsten Misstrauens gegangen und bin heute aber froh, dass ich erleben durfte, was eine tiefe Freundschaft aushalten kann.
Wurde Ihnen von der Polizei eine Opferbetreuung, zum Beispiel über den Weißen Ring, angeboten?
Der Weiße Ring hat uns im Jahr 2018 unterstützt, so dass wir gemeinsam in die Ferien fahren konnten. Es gab auch Gespräche mit einer Mitarbeiterin, die sehr hilfreich waren. Die Möglichkeiten zum Erholungsurlaub hatten wir der Initiative Vermisste Kinder zu verdanken, die uns auch bei der Suche nach Inga mit großflächig geschalteten Plakaten unterstützt hat. Ich hatte übrigens lange gebraucht zu akzeptieren, Opfer zu sein. Deshalb hat es auch eine ganze Weile gedauert, die Hilfen anzunehmen. Aktuell bin ich ja immer noch dabei die traumatische Situation zu bewältigen. Dafür bekomme ich professionelle Hilfe und auch dabei unterstützt mich der Weiße Ring. Dafür bin ich sehr dankbar.
Standen Sie mit den Ermittlern häufig in Kontakt?
Ich hatte im Laufe der Zeit regelmäßig mit ihnen zu tun, wenn das notwendig war. Außerdem konnte ich mich am Anfang auch jederzeit melden, wenn etwas war. Es ist dann irgendwann der Punkt gekommen, dass mir mitgeteilt wurde, dass die Akte geschlossen wird.
Wann war das?
Das war so vor etwa drei oder vier Jahren.
Gab es danach noch einmal einen Kontakt?
Es wurde sehr ruhig. Und ich muss sagen, dass es mir auch zu ruhig war. Wir hatten das Gefühl, das war es jetzt. Da passiert nichts mehr. Meine ganze Hoffnung hat sich am Ende daran geklammert, dass solche sogenannten kalten Fälle immer wieder von verschiedenen Leuten überprüft werden. Ich bin deshalb auch froh, dass sich meine Anwältin aus Magdeburg zurzeit so engagiert, damit die Akte noch einmal auf mögliche Anhaltspunkte geprüft wird. Vielleicht ist etwas bei den mehr als 2000 Hinweisen übersehen worden.
Anders als im Fall Madeleine McCann haben Sie in den vergangenen fünf Jahren die Öffentlichkeit gemieden. Warum haben Sie sich entschieden dieses Interview jetzt der Volksstimme zu geben?
Grundsätzlich war es für mich der richtige Weg, so wie wir ihn bisher auch gegangen sind. Dieses Interview ist insofern eine Ausnahme, da ich es genau zu diesem Zeitpunkt für dringend geboten halte. Genau jetzt besteht die Chance, dass sich das Schicksal von Inga klären könnte. Ich spüre jeden Tag die Aufgeschlossenheit der Menschen, wenn es um das Schicksal meines Kindes geht. Fast jeder kann sicher auf irgendeine Art ansatzweise nachempfinden, was es bedeuten muss, ein Kind zu verlieren. Ich bin mir deshalb auch sicher, dass viele Menschen helfen den Fall Maddie aufzuklären und auch Ingas Fall doch noch gelöst werden könnte. Weil Inga in dieser Region verschwunden ist, hoffe ich, die Menschen hier auf diese Weise gezielt zu erreichen.
Was meinen Sie damit?
Vielleicht gibt es doch noch unausgesprochene Hinweise, die alles aus einem neuen Blickwinkel erscheinen lassen. Auch durch die Parallelen in beiden Fällen. Ich sehe Madeleine McCann als einen sehr ähnlich gearteten Fall an, den ich nur ungern an mich heranlasse. Weil die furchtbare Gefahr darin enthalten ist, dass mein Kind nicht mehr leben könnte.
Welche Parallelen sehen Sie?
Für mich ist eine große Ähnlichkeit das Umfeld, in dem das Kind verschwunden ist. Im Fall Maddie war es eine abgeschlossene Urlauberunterkunft, in der sich die Leute sicher gefühlt haben. So sicher, dass sie es sich getraut haben, wenige Meter von der Unterkunft entfernt mit Freunden einen geselligen Abend zu verbringen. Das war bei uns im Prinzip auch so, nur eine Nummer kleiner. Wir waren nicht in einem 14-tägigen Urlaub, sondern nur einen Tag lang unterwegs, um diesen mit lieben Freunden zu verbringen. Auch an einem Ort, den wir als sicher empfunden haben. Das ist ja eine Einrichtung der Diakonie, die zum Wohle anderer Menschen da ist. Ein Ort, der räumlich geschützt und einigermaßen abgeschlossen ist. Wir wussten auch, dass dort nie etwas passiert ist.
Und weiter?
Als Mutter sehe ich, dass die Eltern besorgt waren und trotz der scheinbaren Sicherheit abwechselnd nach den Kindern gesehen haben. Das haben wir auch gemacht. Es ist auch auffällig, dass in beiden Fällen mehrere Kinder vor Ort waren und nur eines ausgewählt wurde. Mal ganz davon abgesehen, dass der Verdächtige in Ingas Akte auftaucht und in der Nähe war, ist auch eine gewisse Ähnlichkeit der Mädchen sehr auffällig.
Wenn Sie könnten, was würden Sie den McCanns sagen?
Ich würde ihnen sagen, dass ich Hochachtung davor habe, dass sie diese Ungewissheit schon 13 Jahre lang ausgehalten haben. Die Vorstellung ist unerträglich, dass man so lange warten muss, bis sich vielleicht etwas klärt. Schon die letzten fünf Jahre haben mir gezeigt, dass nie Gras darüber wächst und dass das Leiden an der Ungewissheit nicht kleiner wird. Ich hoffe sie geben nicht auf, so wie wir auch nicht aufgeben werden.
Sie haben vorhin von Chancen auch für den Fall Inga gesprochen, worin sehen Sie diese?
Vielleicht hat doch jemand eine Beobachtung gemacht, die er bisher noch nicht gemeldet hat. Entweder, weil es ihm zu unwichtig war oder damals eine andere Situation bestand. Das könnte sich jetzt geändert haben. Man sollte da keine Angst haben, jemanden zu denunzieren. Hier geht es um Kinder. Jeder kleinste Hinweis hilft, dann können die Ermittlungen doch wieder aufgenommen werden.