Künstler Von verwaisten Häusern angelockt
Kunststudentin Karola Pfandt zieht es seit Jahren immer wieder von Karlsruhe nach Kalbe. Grund sind die verlassenen Häuser.
Kalbe l Von den Wänden lösen sich Tapetenfetzen, rostige Scharniere halten marode Holzbalken zu Fenstern zusammen, den kalten Betonboden bedeckt nichts als eine Schicht Staub – Karola Pfandt fühlt sich hier pudelwohl. In Flip Flops, Schlabberhose und Kuschelstrickjacke schlurft sie durch den Raum, die Hände um einen Pott Kaffee geschlungen, und begutachtet ihre Schätze: Alukelle, Topfschwämme, Eierteller, Radkreuzschlüssel – und sechs neonfarbene Glitzer-Nagelfeilen. „Die find ich ja total scharf“, witzelt sie und nippt an ihrem Kaffee.
Für Karola Pfandt ist diese einstige Trabiwerkstatt ein Kunstprojekt. Mit ihrem Sammelsurium will sie hier eine Installation erschaffen. Schon zum fünften Mal verbringt sie ihre Semesterferien im Altmarkstädtchen Kalbe, um sich in einem verlassenen Raum kreativ auszutoben. Die 26-Jährige studiert Kunst in Karlsruhe. „Solche Residenzstipendien gibt es in Deutschland meist nur für fertige Künstler“, erzählt sie. „Da ist das schon eine besondere Gelegenheit.“
Ermöglicht hat das der Verein Künstlerstadt Kalbe um die Psychotherapeutin und Hobby-Malerin Corinna Köbele. Um die dünn besiedelte Stadt zu beleben, lädt er seit 2013 jeden Sommer Studenten aus aller Welt dazu ein, leerstehende Häuser und Wohnungen als Ateliers zu nutzen. Seit 2014 gibt es neben dem Sommer- auch einen Wintercampus.
Auf das Angebot ist Karola Pfandt durch Zufall im Internet gestoßen. Den Namen Kalbe hatte sie noch nie gehört, Sachsen-Anhalt noch nie betreten. Gezögert sich zu bewerben habe sie aber nicht: „Ich dachte mir, man kann ja auch mal woanders hin“, erklärt sie schulzertuckend. „Außerdem habe ich ein Faible für skurrile Sachen.“ Damit spielt die Nachwuchskünstlerin auf die Unterbringung an: Vor dem ersten Sommercampus hat der Verein einige der verwaisten Wohnungen mit Putzeinsätzen und gespendeten Möbeln zum Wohnen hergerichtet.
Die gebürtige Marburgerin ist ohnehin jemand, der ungewöhnliche Wege nicht scheut. Nach dem Abitur hatte sie einen der begehrten Studienplätze in Psychologie ergattert – und war so auf dem Weg in einen soliden, gutbezahlten Job. Doch nach einem Jahr schmiss sie hin. „Ich fühlte mich geistig eingeschränkt. Man hat dicke Wälzer auswendig gelernt und den Inhalt in Klausuren wieder ausgespuckt.“ Schon lange interessierte sie sich für Malerei, außerdem hat sie Künstler in ihrer Familie. Also nahm sie – nach einem Probesemester und vielen Gesprächen – ein Kunststudium auf.
Das finanzielle Risiko, das ihr neuer Berufsweg mit sich bringt, ist der Studentin durchaus bewusst. Die ernüchternden Zahlen trägt sie nüchtern vor: „Man sagt, drei bis fünf Prozent der Absolventen an den Akademien können später von ihrer Kunst leben.“ Darüber mache sie sich aber keine Gedanken mehr. Warum? „Das frisst Energie. Außerdem findet man immer eine Art, wie man sein Brot auf den Tisch bekommt.“
Nachdem sie die ersten zwei Studienjahre in Karlsruhe vor allem mit Malerei und Zeichnen verbracht hat, widmet sich Karola Pfandt seit einigen Monaten Video-Installationen. Als sie im Winter zuletzt in der Altmark war, schuf sie dort schon mal eine Installation. Dafür filmte sie die Landschaft in der Umgebung: Bäume, Wiesen, Seen – Idylle. Darunter legte sie mystische Klänge. Das Video präsentierte die Nachwuchskünstlerin dann in einem quietschgrünen Raum, in dem ein alter Billardtisch stand. Auf den legte sie vertrocknete Kürbisse, die sie im Wald gefunden hatte. Und sie pinnte Zettel mit eigenen Texten an – eine Aneinanderreihung von Eindrücken und Gefühlen, getippt auf einer Reiseschreibmaschine aus den 70ern.
Die hat sie auch diesmal dabei. Was sie für ihre neue Installation darauf tippen will, weiß die junge Frau noch nicht. Auch nicht, wie Eierteller, Nagelfeilen und Co. – teils in der Werkstatt gefunden, teils im Baumarkt gekauft – ihrem Werk nutzen sollen. Aber sie ist ja auch erst seit ein paar Tagen hier, noch drei Wochen hat sie Zeit. Ein wenig hat sie schon herumprobiert: mit Gips Figuren abgegossen, Alufolie mit Gittern gemustert.
Ihre Arbeitsumgebung, erzählt Karola Pfandt, sei jedenfalls eine Hilfe: „Für Künstler ist das hier Klasse. Man hat Platz, sich auszubreiten. Außerdem ist in großen Städten alles durchdesignt. Ich finde es viel inspirierender, wenn in einem Raum die Tapete herunterhängt.“
Damit sie sich in ihrer leeren Werkstatt nicht verlassen fühlt, hat Karola Pfandt wie alle Stipendiaten einen Kalbenser als Paten. Der schaut immer mal vorbei, hilft, sich in der Stadt zurecht zu finden, lädt einen zum Kaffee ein. Auch andere Bewohner kommen die Künstler besuchen. „Bei uns gibt‘s abends ständig Gemüsepfanne, weil immer wieder jemand Zucchinis und Tomaten aus dem Garten vorbeibringt“, erzählt die 26-Jährige.
Insgesamt 14 Studenten haben sich für diesen Sommer in Kalbe angemeldet. Sie kommen aus ganz Deutschland, aus Russland und Südkorea. In den Vorjahren lagen die Teilnehmerzahlen um ein Vielfaches höher, im Sommer 2014 zum Beispiel kamen 55 Stipendiaten. Dass es diesmal viel weniger sind, kann der Verein – so paradox es klingen mag – als Erfolg verbuchen.
Denn Ziel seines Projekts ist es, die vielen leerstehenden Häuser zu beleben und für Kalbe als Wohnort zu werben – und das fruchtet offenbar. Vereinschefin Köbele berichtet: „Den Großteil der Wohnungen, die wir bisher kostenlos nutzen konnten, mussten wir Ende des Jahres räumen, weil der Eigentümer sie sanieren wollte. Sie sind inzwischen vermietet.“
Für den Verein bedeutete das, sich neue Objekte zu suchen. Ateliers fanden sich genügend, Wohnraum mit Strom und fließend Wasser ließ sich allerdings auf die Schnelle nur begrenzt auftreiben. In den nächsten Jahren soll es wieder mehr davon geben, zum Beispiel auf einem Bauernhof, das der Verein gerade gekauft hat.
Für Karola Pfandt hat die Platznot sogar einen Vorteil: Neben dem Bauernhof hat sich die Künstlerstadt nämlich auch einen alten, dunkelgrünen Bauwagen zugelegt. Aus dem würde sie am liebsten gar nicht mehr ausziehen: „Wohnen wie Peter Lustig – das ist doch ein Traum!“
Während man diesen Immobilienwunsch wohl eher als Schwärmerei verbuchen kann, hegt sie einen anderen ganz ernsthaft: „Ein paar ehemalige Teilnehmer und ich überlegen, uns in Kalbe ein Haus zu kaufen und es als Atelier zu nutzen“, erzählt die 26-Jährige. „Es wäre erschwinglich. Und uns gefällt die Idee, immer wieder herzukommen, um ohne Hektik Großstadtlärm zu arbeiten.“