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Zerrissene Stadt Köthen sucht seine Mitte

In Köthen ist erneut eine rechte Demo angekündigt. Die Hochschule Anhalt fürchtet um ihren Ruf - und sagt eine Gegenveranstaltung ab.

Von Alexander Walter 29.09.2018, 01:01

Köthen l Wenn Sen Wang von ‚seiner Stadt‘ spricht, dann meint er nur Köthen. „Ich liebe die Ruhe und Gelassenheit hier“, sagt der freundliche 35-Jährige aus dem Süden Chinas. Neun Jahre lebt er hier, und er hat sein Glück gefunden. An der Hochschule hat er den Master in Automatisierungstechnik bestanden und eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter bekommen. Hier hat er auch seine deutsche Frau kennengelernt. Die beiden haben seit sieben Monaten eine Tochter.

Die Gelassenheit allerdings, die Sen Wang so mag, scheint Köthen in diesen Tagen abhanden zu kommen. Demonstrationen vor allem von rechten Gruppierungen halten die Stadt in Atem. Ausgangspunkt war der Tod eines jungen Deutschen vor drei Wochen. Am 9. September hatte sich der 22-Jährige schlichtend in einen Streit zwischen Afghanen eingeschaltet. Dabei war er ins Gesicht geschlagen worden.

Nach Behördenangaben starb er später an den Folgen eines Herzinfarkts, einen direkten Zusammenhang mit den Verletzungen schlossen die Ermittler aus. Bei manchem aber blieben Zweifel. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen zwei 18 und 20 Jahre alte Männer aus Afghanistan wegen Körperverletzung mit Todesfolge.

Am Tatort erinnert bis heute ein Meer aus Sträußen und Blumen an den Verstorbenen. Auf einen Trauermarsch folgten Demonstrationen – von Bürgern, aber auch Hunderten Neonazis und linken Gegendemonstranten. Mit ihnen kamen Hundertschaften Polizei und Kamerateams in die Stadt.

Noch nie habe er sich wegen seiner Herkunft bedroht gefühlt, sagt Sen Wang. Dann aber kam dieser Sonntag vor zwei Wochen. Er stand im Garten und hörte ein dunkles Gröhlen. Es waren die Rufe rechter Demonstranten. Er konnte die Worte nicht verstehen. „Doch, sie haben mir ein bisschen Angst gemacht“, gesteht der großgewachsene Mann.

Es sind Erfahrungen, die auch Jörg Bagdahn umtreiben. Der 48-Jährige ist Präsident der Hochschule Anhalt. In der hübschen 26.000-Einwohnerstadt hat die Hochschule einen ihrer traditionsreichsten Standorte. 3500 junge Menschen studieren hier Pharmatechnik, Biotechnologie oder Fotovoltaik. Fast jeder dritte kommt aus dem Ausland. Das war schon bei der Gründung der Vorläufereinrichtung 1891 so. Die Hochschule ist stolz auf ihre internationale Ausrichtung, sagt Bagdahn. Doch in diesen Tagen muss die Einrichtung plötzlich um ihren guten Ruf im Ausland fürchten.

„Klar werden die Bilder der Demonstratioen international wahrgenommen“, sagt Bagdahn. Es gab Anrufe von einigen der 270 Partnerhochschulen und mancher Eltern. „Sie wollten wissen, ob es hier in Köthen noch sicher ist. Bagdahn ärgert das, nicht nur weil Medienberichte die Situation oft zugespitzt darstellten. „Hier werden rechte Demos von außen in die Stadt getragen“, sagt er. Das aber sei nicht das wahre Köthen.

Um das Bild zu korrigieren, geht der Präsident einen für Hochschulen ungewöhnlichen Weg. Gemeinsam mit der SPD der Stadt hatte er für den 29. September zu einem Aktionstag „Weltoffene Hochschulen“ auf dem Marktplatz aufgerufen. Erwartet worden waren neben 2000 Teilnehmern und Vertretern der anderen Hochschulen Sachsen-Anhalts auch Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sowie Wissenschaftsminister Armin Willingmann (SPD). Die Hochschule sagte den Aktionstag jedoch am Vorabend kurzfristig ab. Maßgeblich dafür war eine Gerichtsentscheidung, die eine Trennung des Aktionstages von einer gleichzeitig auf dem Markt stattfindenden Veranstaltung der Republikaner erforderlich machte. Ein neuer Termin für den Aktionstag wurde zunächst nicht bekanntgegeben.

Ungewöhnlich ist der Schritt zum Aktionstag allerdings. Hochschulen bemühen sich normalerweise um politische Neutralität. Bagdahn hält die Aktion dennoch für richtig. „Für Weltoffenheit haben wir uns schon immer engagiert“, sagt er.

Unterstützung erhält er von Bernd Hauschild (SPD), Oberbürgermeister von Köthen. „Ich finde wichtig, dass die Hochschule Farbe bekennt“, sagt er im historischen Saal des Rathauses. Die mediale Außendarstellung der Stadt in den vergangenen Wochen habe Ängste geschürt – sowohl in der Stadt als auch im Ausland. Dem gelte es positive Bilder entgegenzusetzen. Hauschild hat auch die wirtschaftliche Bedeutung der Hochschule vor Augen. 3500 Studenten kaufen ein, mieten Wohnungen und gehen abends aus.

„Die Köthener hatten immer eine positive Einstellung zur Hochschule und ihren ausländischen Studenten“, sagt er. Der Oberbürgermeister will dazu beitragen, dass das so bleibt.

Nach Harmonie ist indes in Köthen nicht jedem zumute. Der Tod des jungen Deutschen und die Demonstrationen beschäftigen die Leute. Auf Nachfrage will sich beim Besuch der Stadt am Donnerstag fast niemand öffentlich äußern. Der Rentner Peter Hinze ist eine Ausnahme: Nach dem Todesfall seien zu viele Fragen unbeantwortet geblieben, sagt er. „Wer zu uns kommt, muss sich doch benehmen“, ergänzt seine Bekannte Rosemarie Naumann.

Obwohl der getötete Deutsche einen Streit zu schlichten versuchte, hätten Flüchtlinge ihn geschlagen. Die Studenten der Hochschule nehmen die beiden Rentner ausdrücklich von Kritik aus. „Die waren schon hier als ich Kind war, mit denen hatten wir nie Probleme“, sagt Rosemarie Naumann. Peter Hinze pflichtet ihr bei: „Die sind super, da gibt es keinerlei Probleme.“ „Aber schreiben Sie auch die Wahrheit“, sagt er dann noch.

Wie repräsentativ solche Aussagen sind – schwer zu sagen. Oberbürgermeister Hauschild jedenfalls kennt Meinungen wie diese gut, sagt er.

„Die Köthener hatten in den letzten Wochen viele Fragen.“ An den Ereignissen in Köthen kristallisiere sich die ganze Problematik der Flüchtlingspolitik. Der SPD-Mann will es deshalb auch nicht bei Toleranzbekundungen belassen. „Sie beantworten keine Fragen“, sagt er. Für den 3. Oktober laden er und die Ratsfraktionen daher zu Themen-Tischen auch mit überregionalen Politikern ein. Ein Aspekt soll die Flüchtlingspolitik sein. „Fragen, die unbeantwortet bleiben, werde ich der Kanzlerin übergeben“, sagt Hauschild.

Zurück auf dem Campus lässt sich Sen Wang von solchen Debatten nicht ablenken. Auf seine neue Heimat Köthen lässt er nichts kommen. Er will sich jetzt ganz auf die Forschung und die Beziehungen zu den chinesischen Partnern konzentrieren. Nicht alle Studenten sehen die Lage aber so entspannt.

Gao Ruimao und Geng Jianhui studieren Elektrotechnik im letzten Semester. An diesem Tag schreiben die jungen Chinesen Prüfungen. Von den rechten Demos habe er bei Facebook erfahren, erzählt Gao Ruimao. Auf Abendpartys im Stadtzentrum gehen beide seitdem nicht mehr allein.

Noch deutlicher werden zwei junge Chinesinnen, die sich nur Frau Wei und Frau Miao nennen: „Wir haben darüber nachgedacht, ob es eine gute Idee war, nach Köthen zu kommen“, sagt Frau Miao. Ihren Eltern hat sie von den Demos vorsorglich nichts erzählt. „Ich will nicht, dass sie sich Sorgen machen.“