Franziska Hentke Das perfekte Kind
Sie stand auf der Ballettbühne, sie spielte Keyboard - doch Franziska Hentke vom SCM ist Schwimmerin geworden. Alles begann in Bitterfeld.
Magdeburg l Im Städtischen Kulturhaus Wolfen hatten sich die Kinder aufgereiht, eine Stunde lang sollte das Casting für den Ballettkurs dauern. Warum Franziska Hentke dort gestanden hat, damals im zarten Alter von vier Jahren, weiß sie nicht mehr. Aber dass ihr ein Zettel auf den Rücken geklebt wurde, das weiß sie noch genau. Der Zettel verhieß nichts Gutes. Er bedeutete: Du bist raus. Auf der Suche nach einer sportlichen Betätigung für ihre Tochter musste Ulrike Hentke feststellen: „Ballett war nicht das Richtige.“
Es ist also nichts geworden mit einer Karriere als grazile Tänzerin. Es wurde bekanntlich eine Karriere als Schwimmerin in den Becken dieser Welt. Franziska Hentke vom SCM tanzt längst ihr eigenes Ballett, voraussichtlich auch erstmals bei Olympischen Spielen. Am 10. August ist in Rio de Janeiro ihr Finaltag über die 200 Meter Schmetterling. „Die Strecke ist die absolute Härte“, sagt Anke Paulsen. Sie muss es wissen: Paulsen und Renate Schrötter waren die ersten Trainerinnen Hentkes. Damals beim Bitterfelder SV.
Dass es nun ausgerechnet „Kachelnzählen“ wurde, „war mehr oder weniger Zufall“, erinnert sich Ulrike Hentke. Als Jüngste der Familie mit Mama, Papa Siggi und Bruder Sebastian (29) wuchs Franziska Hentke in der 160-Seelen-Gemeinde Zschepkau im Landkreis Anhalt-Bitterfeld auf. Da gab es in den 90er Jahren nur eine Straße, heute sind es drei. Da gibt es immer noch einen Dorfteich, auf dem im Winter die Jungen Eishockey spielten und Hentke ihre Pirouetten drehte. Aber dann ging es mit dem Kindergarten 1995 ins Stadtbad Zörbig. Dort lernte Hentke schwimmen. Und dort wurde ihr erklärt: „Ich hätte eine gute Wasserlage, ich sollte mich bei einem Schwimmverein vorstellen“, erinnert sich die 26-Jährige. Sie stellte sich in Bitterfeld vor nach der Einschulung und wurde Vereinsmitglied im Februar 1996. „Es hat mir von Anfang an Spaß gemacht“, berichtet Hentke.
Für das Schwimmen hat Hentke sogar ihre Keyboard-Laufbahn beendet, von der die Öffentlichkeit allerdings wenig Kenntnis hatte. Diese Karriere hatte zu Weihnachten in der Familie ihren Höhepunkt, wenn die kleine „Franzi“ dem Instrument Töne entlockte und dazu sang. „Aber ich denke, mir hat das musikalische Talent gefehlt“, sagt sie lächelnd. Paulsen war dar- über nicht unglücklich. „Für mich als Trainerin war sie das perfekte Kind“, erklärt die 50-Jährige. Hentke war „immer pünktlich, immer diszipliniert, immer ehrgeizig“. Zugleich war sie „ruhig und unauffällig, keine, die über richtig oder falsch diskutierte“. Aus ihrer Trainingsgruppe mit zwölf Kindern stach Hentke mit ihrem Fleiß heraus. Und mit ihrem Erfolg.
„Sie hat bei den Wettkämpfen abgeräumt“, erklärt Ulrike Hentke. Die ersten Medaillen gewann sie mit sieben, den ersten Pokal mit neun Jahren. Und irgendwann rief die Sportschule Halle. „Da wollte ich unbedingt hin, weil ich einfach gut war“, sagt die 1,72 Meter große Athletin. Dorthin wollte sie aber nicht jeder gehen lassen ab der fünften Klasse und dem Schuljahr 1999/2000. Selbst im Verein „war nicht jeder davon überzeugt, dass sie es in den Leistungssport schaffen könnte“, erinnert sich Anke Paulsen. Die unfreundliche Begründung lautete: „Ich war zu dick“, erzählt Hentke. Letztlich aber ließ sich Landestrainerin Carmela Ertel erweichen. Ulrike Hentke erklärt: „Ich höre Frau Ertel heute noch sagen: ,Wir können es ja mal versuchen.‘“ Und ergänzt: „Franziska hat nie aufgegeben, sie hat sich immer durchgekämpft.“
Beim SV Halle begann die große Reise ihrer Tochter. Heute, sagt die Mama, sieht sie ihr Mädchen wochenlang nicht, vielleicht nur 70 Tage im Jahr. „Irgendwann hat man sich daran gewöhnt“, erklärt sie mit einem traurigen Auge. Sie hat sie vor Ort getröstet, als Hentke 2013 das Finale bei der Weltmeisterschaft in Barcelona um eine Hundertstelsekunde verpasste. Sie hat sie aus der Ferne getröstet, als Hentke im August 2015 in Kasan an einer WM-Medaille knapp „vorbeischmetterte“. Aber Ulrike Hentke durfte auch oft jubeln – besonders im letzten Dezember.
Sechs Jahre nach ihrem Wechsel von Halle zum SCM hatte Hentke bei der Kurzbahn-Europameisterschaft in Netanya (Israel) erstmals bei internationalen Titelkämpfen die große Bühne für sich ganz allein. Diesmal gab es keinen Zettel. Diesmal gab es Gold.