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Sommerspiele in Tokio Florian Wellbrock: Der Gigant

Florian Wellbrock vom SC Magdeburg ist im Freiwasser zum Olympiasieg geschwommen. Doch der 23-Jährige hat noch lange nicht genug. Sein Vater sagt: „Florian lebt seinen Traum.“

05.08.2021, 22:17
Florian Wellbrock auf dem Weg zum Gold.
Florian Wellbrock auf dem Weg zum Gold. Foto: dpa

Tokio/Magdeburg - Dank einer technischen Errungenschaft der jüngeren Vergangenheit konnte Florian Wellbrock direkt nach seinem Olympiasieg über die zehn Kilometer Kontakt zur Familie in Bremen aufnehmen. Das Wunderwerk heißt „Facetime“, auch Videotelefonie genannt, mit der es Jubel nicht nur hören, sondern auch sehen lässt. Doch Florian Wellbrock hörte und sah keinen Jubel. Florian Wellbrock erzählte vielmehr: „Sie waren baff, sie wussten gar nicht, was sie sagen sollten.“ Eine Anfrage der Volksstimme bestätigte dieses Aussage. „Das war für uns in der Nacht gar nicht realisierbar“, berichtete sein Vater Bernd über seine positive Verwunderung und jener seiner Frau Anja und Wellbrocks Verlobter Sarah Köhler, die alle drei vor dem Bildschirm in Bremen Platz genommen hatten. Wenn sie denn dort gemeinsam gesessen haben. Mama Anja konnte es die meiste Zeit nicht.

Spannung ist nicht ihre Sache, weshalb sie sich während der 1:48:33,7 Stunden, in denen ihr Sohn zur Goldmedaille im Odaiba Marine Park in Tokio kraulte, mit drei Dingen beschäftigte: „Ich habe die Wäsche zusammengelegt, ich habe den Keller aufgeräumt, ich war auf dem Balkon, um frische Luft zu schnappen.“ Bis der Ruf aus dem Wohnzimmer drang: „Nun komm doch endlich, es ist gleich vorbei.“ Da waren es für den 23-Jährigen vom SC Magdeburg noch 500 Meter bis zum Anschlag. Wellbrock kann auf diese emotionale Welt seiner Mutter natürlich keine Rücksicht nehmen und sich im Rennen schonen. Aber: „Ich bin ein sehr familiärer Mensch“, sagte er. „Ihre Unterstützung zu wissen, macht mich stolz und lässt mich befreit schwimmen.“

Ich hatte tatsächlich ein bisschen Frust nach den Beckenwettbewerben.

Florian Wellbrock

Gestern Morgen gegen 8.20 Uhr nach Tokio-Zeit war er besonders befreit. Nicht etwa von dem Druck, der ihm schon vor den Sommerspielen angelastet wurde – jenem Druck, den Deutschen Schwimmverband (DSV) aus seiner Tristesse zu retten. „Ich kann solche Dinge sehr gut ausblenden, ich habe ja meine eigene Erwartungshaltung“, betonte er. Allein um diese ging es im Freiwasser-Rennen, denn nicht alle Hoffnungen hatten sich zuvor erfüllt. „Ich hatte tatsächlich ein bisschen Frust nach den Beckenwettbewerben“, gestand Wellbrock. Platz vier über 800 Meter, Bronze über 1500 Meter: „Ich habe einen kleinen Dämpfer bekommen von einem Amerikaner, mit dem ich nicht rechnen konnte“, erklärte der Schützling von Trainer Bernd Berkhahn. Von Robert Finke, der über beide Strecken Olympiasieger wurde. „Das hat mich extrem motiviert für den Abschluss. Und ich habe mich mit einem souveränen Rennen mit Gold belohnt.“

Souverän? Selbst der Begriff der Dominanz oder der Demonstration reichten nicht annähernd, um diesen Sieg wohlwollend zu erklären. Florian Wellbrock hat die Konkurrenz deklassiert. Er hat mit den Gegnern gespielt, mit wirklich allen. Vom Start bis zum Ziel. Thomas Lurz, der zuletzt in London 2012 Freiwasser-Silber gewann und gestern als TV-Experte bei Eurosport kommentierte, nannte Wellbrocks Leistung „absolut gigantisch. Außergewöhnlich stark, außergewöhnlich schnell. Es gab keinen anderen, der nur ansatzweise so gut geschwommen ist wie er.“ Kein Kristof Rasovszky (Ungarn), der Silber holte. Kein Gregorio Paltrinieri (Italien), der sich Bronze sicherte. Auch kein Rob Muffels.

Der SCM-Gefährte sprach von einem „stolzen Moment“, den er mit seinem Freund erleben durfte. Aber er sprach auch von einem „bitteren Tag“ für ihn persönlich. Wellbrock und Muffels hatten bei der Weltmeisterschaft 2019 gemeinsam auf dem Podest gestanden. Wellbrock mit Gold, Muffels mit Bronze. „Ich habe einen Fehler gemacht“, meinte Muffels. „Ich habe versucht, Florian hinterherzuschwimmen.“ So schwamm er aber raus aus der eigenen Medaillenchance. Frühzeitig. Der 26-Jährige belegte Rang elf.

Ich hatte noch nie solch ein entspannntes Rennen.

Florian Wellbrock

Wellbrock hatte alle Konkurrenten bei brütender Morgenhitze und Wassertemperaturen von über 30 Grad in die totale Erschöpfung gekämpft, während er resümierte: „Ich hatte noch nie solch ein entspanntes Rennen. Ich bin meinen Rhythmus geschwommen, ich habe Kräfte gespart. Und ich habe gemerkt, dass alles, was ich mache, der Konkurrenz wehtut.“ Bei der Suche nach der Konkurrenz hatte er sich indes gefragt: „Jungs, wollt ihr heute keinen Wettkampf schwimmen?“ Die extremen Bedingungen machten ihm auch nichts aus: „Ich hatte im Training gemerkt, dass sich das Wasser eigentlich nicht wärmer anfühlt als in einem Schwimmbecken.“ Nur als die Sonne drückte, als zum Ende auch die Luft immer heißer wurde, stellte Wellbrock fest: „Das Rennen hätte keine 100 Meter weiter gehen dürfen, sonst wäre es knapp geworden.“ Ein ganz kleines bisschen vielleicht.

So aber hat Wellbrock „Historisches geschaffen“, sagte Ex-Weltmeister Paul Biedermann. Und nicht nur, weil er das deutsche Beckenschwimmen gemeinsam mit Sarah Köhler aus der 13-jährigen Medaillenlosigkeit bei Olympia geholt hat. Nicht nur, weil er wie Oussama Mellouli 2012 im Becken wie im Freiwasser eine Edelplakette gewonnen hat. Nicht nur, weil er der erste deutsche Olympiasieger im Freiwasser überhaupt ist. Und nicht nur, weil er nach Dagmar Hase 1992 der erste Schwimmer des SCM ist, der sich Gold bei Sommerspielen sicherte. Sondern auch, weil er nach Uwe Daßler (DDR) und Michael Groß (BRD) der erste deutsche Olympiasieger im Schwimmen seit 33 Jahren geworden ist.

Es hat nun schon einige Athleten gegeben, die an dieser Stelle ihre Karriere beendet haben. Daran ist bei Wellbrock nicht zu denken. „Der Sieg gibt mit Motivation und Selbstvertrauen für die nächsten Jahre“, sagte er stattdessen. Zumal sich die Goldmedaille „unglaublich gut“ anfühlt. Wie Sarah Köhler hatte er mit den Sommerspielen in Paris 2024 bereits sein nächstes großes Ziel angekündigt. Was treibt ihn also an?

„Zum einen ist es der Erfolgshunger, zum anderen wollte er immer von Beruf Schwimmer werden, er kann sich jedes Jahr aufs Neue für Erfolge motivieren“, sagte Vater Wellbrock, der den Erfolg seines Sohnes gemeinsam mit seiner Frau erst einmal sacken lassen muss, der mit ihr gestern eine Wiederholung der Siegerehrung geschaut, und dann „ein paar Freudentränen“ geweint hat. „Florian lebt seinen Traum“, erklärte der 55-Jährige. Seit seiner Ankunft beim SCM vor sieben Jahren und mit dem damals erklärten Ziel: „Ich will zu den Sommerspielen nach Tokio.“

Nun lebt er seinen nächsten Traum bereits am kommenden Montag weiter, wenn er wieder zum Training ins Becken der Elbehalle springt.