Politikprofessor aus Halle zum Wahlergebnis „Endspiel für die politische Mitte“
Der aus Halle stammende Politikwissenschaftler Christian Stecker im Volksstimme-Interview über den Wahlsieg der Union, den Erfolg der AfD im Osten und die Chancen auf eine stabile Regierung.
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Magdeburg - Die Union hat die Bundestagswahl gewonnen, allerdings mit dem zweitschlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte. Gleichzeitig hat die AfD im Osten fast alle Wahlkreise geholt. Was bedeuten die neuen Mehrheitsverhältnisse für die Regierbarkeit Deutschlands – und mit Blick auf die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt 2026?
Darüber hat Volksstimme-Reporter Alexander Walter mit dem aus Halle stammenden Politikwissenschaftler Christian Stecker gesprochen.
Volksstimme: Herr Stecker, wer ist der Wahlsieger dieser Bundestagswahl: die Union oder die AfD?
Christian Stecker: Die Union ist der Wahlsieger, dem eindeutig der Sondierungsauftrag zukommt. Die magische Hürde von 30 Prozent hat sie allerdings nicht erreicht, auch nicht mit der letzten Volte einer Abstimmung zur Migration mit Stimmen der AfD.
Insgesamt ist diese Wahl für die Union am Ende aber gut ausgegangen. Der Albtraum für sie – und ein Blütentraum für die AfD – wäre es gewesen, wenn es nur für ein Kenia-Bündnis mit SPD und Grünen gereicht hätte. Das wäre auch mit Blick auf die Landtagswahlen 2026 in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern fatal gewesen.
Die AfD wiederum hat vor allem im Osten ein beeindruckendes beziehungsweise besorgniserregendes Ergebnis erzielt. Sie wird versuchen, die neue Koalition massiv vor sich herzutreiben.
Der Albtraum für die Union – und ein Blütentraum für die AfD – wäre es gewesen, wenn es nur für ein Kenia-Bündnis mit SPD und Grünen gereicht hätte.
Im November lag die Union zwischenzeitlich schon mal bei 34 Prozent. Womit erklären Sie sich, dass es am Ende doch nicht zu 30 Prozent gereicht hat?
Die Brandmauer-Debatte hat jedenfalls nicht zu massiven Stimmverschiebungen geführt, das haben die Umfragen gezeigt. Es kann sein, dass ein Grund war, dass Friedrich Merz als Kandidat eher geringe Sympathiewerte hatte, aber das kann man nicht mit Gewissheit sagen. Letztlich liegen die erreichten 28,5 Prozent auch innerhalb der Fehlermarge der Umfragen.
Warum ist die AfD im Osten so stark?
Die AfD hat im Osten zwar fast alle Wahlkreise gewonnen, aber nicht mit absoluten Mehrheiten. Das muss man heute auch festhalten. Unabhängig davon ist richtig, dass sie fast überall im Osten stärkste Kraft bei den Erst- und Zweitstimmen geworden ist.
In die Hände gespielt hat ihr sicher die Weltlage: die Inflation, die Wirtschaftskrise, die Kriegsgefahr. Die AfD profitiert davon, weil sie einfache Lösungen anbietet, ohne beweisen zu müssen, dass diese auch funktionieren.
Mit Blick auf den Osten muss man sagen, dass es hier eine besonders klare Mehrheit für die Begrenzung der Migration gibt. Das ist ja auch die Merz-Strategie, den Leuten zu sagen, dass die Union sie da künftig wieder abholen wird. Nur: Viele nehmen der Union das bislang noch nicht ab.
Unterm Strich denke ich, dass sowohl CDU als auch SPD wissen, dass dieses Bündnis ein Endspiel für die politische Mitte ist.
Kann das denn in Zukunft gelingen? Kritiker werfen der Union vor, mit der Begrenzung der Migration ein Thema der Populisten groß zu machen. Letztlich wählten die Leute bei einem solchen Vorgehen das „Original“ – so der Vorwurf.
Ja, diese Erzählung gibt es. Sie konkurriert aber mit jener, dass sich die Politik der Probleme annehmen muss, wenn sie Populisten die Grundlage entziehen will. So würde auch ich argumentieren: Zwar wirft die AfD der Union vor, ihre Agenda abzuschreiben.
Tatsächlich knüpft die CDU hier aber eher an ihre Vor-Merkel-Zeit an. Merz hat mit Äußerungen etwa über „kleine Paschas“ dabei sicher auch einige Ressentiments bedient. Insgesamt verfolgt er aber eine zwar harte, aber vertretbare Migrationspolitik.
Wenn er die hinbekommt, dürfte das den Effekt haben, dass die Wähler der politischen Mitte Lösungen wieder stärker zutrauen.
Die Union kann im Bundestag nach dem Scheitern des BSW an der Fünf-Prozent-Hürde mit der SPD regieren. Ist damit eine stabile Regierung möglich?
Von allen Varianten, die es gab, hat diese die besten Aussichten auf ein effektives Regieren. Eine SPD mit Lars Klingbeil und Boris Pistorius als führenden Köpfen wird in der Lage sein, mit der Union zu Lösungen zu kommen.
In der Migrationspolitik etwa passt schon jetzt nicht viel Papier zwischen Union und SPD, die jüngsten Differenzen hier sind vor allem dem Wahlkampf geschuldet. Bei der Schuldenbremse und in der Sozial- und Wirtschaftspolitik wird man sehen. Mit den Grünen als drittem Partner wäre all das jedenfalls viel schwieriger geworden.
Mecklenburg-Vorpommerns SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig hat erklärt: Es sei völlig offen, ob die SPD mit der Union koaliert und einen Mitgliederentscheid angekündigt ...
Das gehört zur Verhandlungsdramaturgie. Natürlich will die SPD den Preis für Koalitionsverhandlungen jetzt hochtreiben. Ich würde mich auch nicht wundern, wenn aus der Ost-Union demnächst einzelne Hinweise kommen, man sollte hier und da vielleicht auch mal mit der AfD sprechen.
Unterm Strich denke ich aber, dass sowohl CDU als auch SPD wissen, dass dieses Bündnis ein Endspiel für die politische Mitte ist. Das wird die Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf beiden Seiten deutlich erhöhen.
Das Scheitern des BSW ist sicher eine Ironie dieser Wahl.
Warum hat das BSW nach einem fulminanten Start bei den Wahlen in Thüringen und Sachsen jetzt so schlecht abgeschnitten?
Das Scheitern des BSW ist sicher eine Ironie dieser Wahl. Viele hatten die Linke nach der Abspaltung des BSW bereits abgeschrieben. Das Scheitern des BSW ist insofern auch ein Sieg der Linken. Die Fünf-Prozent-Hürde hat das Bündnis dabei vor allem im Westen verfehlt.
Im Osten war es vielerorts zweistellig. Sicher ist der Zauber der Partei ein wenig dadurch verflogen, dass man in Thüringen sehr geräuschvoll in die Regierung ging und in Sachsen draußen blieb. Das Thema Flüchtlingspolitik haben CDU und AfD stärker besetzt. Und vielleicht hat auch die Ukrainepolitik zuletzt nicht mehr so verfangen.
Auch ohne BSW sind die politischen Ränder im Bundestag stark wie nie. Was bedeutet das für die Regierungsfähigkeit?
Das macht es nicht einfacher. Allerdings hat die AfD die Sperrminorität nicht allein. Ich denke, dass die Linke bei nötigen Zwei-Drittel-Mehrheiten etwa für Änderungen an der Schuldenbremse mit sich reden lassen wird. Selbst wenn das nicht klappt: Für Union und SPD gäbe es auch noch Umwege – etwa über die Feststellung einer Sondersituation.
Zur Person
Christian Stecker wurde am 7. August 1979 in Halle an der Saale geboren. Nach dem Abitur studierte er an der Universität Potsdam Politikwissenschaften und promovierte auch dort. An der Universität Mannheim schrieb Stecker seine Habilitation. Nach Stationen als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Potsdam, als akademischer Rat in München und als Projektleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung wechselte er schließlich an die Technische Universität Darmstedt. Seit August 2021 ist er hier Professor und forscht zum Politischen System Deutschlands sowie zum Vergleich politischer Systeme. Stecker ist verheiratet und hat drei Söhne.