Gewerkschaft und Wirtschaft fordern bessere Lehrerausbildung
Zum Start des neuen Schuljahres ist der Fokus auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie gerichtet. Doch die Gewerkschaft GEW und die Wirtschaft sehen noch ganz andere Probleme.
Berlin - Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Berlin fordert eine Ausbildungsoffensive für Lehrkräfte. „Der Lehrkräftemangel hat sich zum Start des Schuljahres 2021/22 weiter zugespitzt und nimmt inzwischen dramatische Ausmaße an“, sagte der GEW-Landesvorsitzende Tom Erdmann der Deutschen Presse-Agentur vor dem Start des neuen Schuljahres am Montag. Auch die Wirtschaft hält mehr Anstrengungen gegen den Lehrermangel für nötig. Der Senat müsse eine verlässliche Versorgung der Schulen mit ausgebildeten Lehrkräften sicherstellen, erklärte die Präsidentin der Industrie- und Handelskammer Berlin (IHK), Beatrice Kramm, am Sonntag.
„Rund 60 Prozent der neu eingestellten Lehrkräfte haben kein Lehramtsstudium absolviert“, zählte Erdmann auf. „In den Grundschulen konnten nur 15 bis 20 Prozent der neuen Stellen mit Lehramtsabsolventen und -absolventinnen besetzt werden.“ Zudem blieben Hunderte Stellen unbesetzt. Besonders alarmierend sei, dass die größte Gruppe (40 Prozent) der neuen Lehrkräfte solche seien, die weder über ein Lehramtsstudium noch über eine berufsbegleitende Qualifikation verfügten. Sie seien überwiegend befristet beschäftigt und erfüllten nicht die Voraussetzungen für den Quereinstieg.
„Die Senatsverwaltung behandelt diese Kollegen und Kolleginnen als reine Lückenfüller, bezahlt sie schlechter, befristet sie und macht ihnen keine gezielten Qualifizierungsangebote“, kritisierte Erdmann.
Ursache für den Lehrkräftemangel ist nach Einschätzung der GEW nicht die fehlende Verbeamtung. Vielmehr habe Berlin den Ausbau der Lehramtsstudienplätze verpasst. „Berlin bleibt bei der Ausbildung meilenweit hinter dem Bedarf zurück. Dabei sind die Herausforderungen seit Jahren bekannt“, mahnte Erdmann. Berlins Universitäten hätten sich bis 2022 auf jährlich 2000 Absolventen mit dem Lehrer-Abschluss verpflichtet, ebenso Rot-Rot-Grün im Koalitionsvertrag. „Dieses Ziel wird deutlich verfehlt“, so Erdmann. „2018 waren es gerade einmal 910 Absolventinnen und Absolventen, 2019 878.“ Zahlen für 2020 lägen noch nicht vor.
„Die Politik könnte seit Jahren deutlich mehr tun, um den hohen Bedarf an pädagogischen Fachkräften zu decken. Der Senat hat hier versagt“, ergänzte Erdmann. „Die künftige Berliner Landesregierung muss Lehrkräftebildung sofort zur Chefsache machen.“
Kramm erklärte, Berlin brauche mehr als die in den Hochschulverträgen festgelegten 2000 Lehramtsabsolventen pro Jahr. „Hürden beim Zugang ins Lehramt wie die verpflichtende Zwei-Fach-Kombination müssen abgebaut werden.“ Ein Pilotprojekt „duales Studium Lehramt“ könne zudem helfen, zusätzliche Lehramts-Interessierte zu gewinnen.
Am Montag startet das neue Schuljahr mit 376 460 Schülern und Schülerinnen an allgemeinbildenden Schulen, 87 360 Schülern an berufsbildenden Schulen, 32 000 Lehrkräften und Tausenden Erziehern. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hatte am vergangenen Dienstag mitgeteilt, dass 2440 unbefristete Lehrerstellen neu zu besetzen waren. Trotz eines harten bundesweiten Wettbewerbs um qualifiziertes Personal und der pandemiebedingten Ausnahmesituation sei es gelungen, bisher 2886 Lehrkräfte einzustellen - nicht alle in Vollzeit.
1526 von ihnen seien sogenannte Laufbahnbewerber. Hinzu kommen 790 Quereinsteiger, die mindestens ein Schulfach studiert haben, sowie 420 sonstige Lehrkräfte. Hierzu zählen etwa Künstler oder Lehrer in Willkommensklassen. 150 Bewerber befinden sich laut Scheeres noch im Einstellungsprozess, 80 Stellen seien noch unbesetzt.
Nach den Worten Kramms befürwortet die Berliner Wirtschaft die Entscheidung der Bildungssenatorin, mit Präsenzunterricht und verstärktem Infektionsschutz in den Schulbetrieb zu starten. „Leider muss man davon ausgehen, dass durch die Schulschließungen (Anm.: im vergangenen Schuljahr) weitere Lernrückstände entstanden sind, die sich zusätzlich negativ auf die Ausbildungsreife und Studierfähigkeit der jungen Menschen auswirken.“
Nach Einschätzung Kramms lassen sich jedoch nicht alle Wissenslücken mit Corona begründen. „Schon vor der Pandemie gab es hier erhebliche Defizite.“ Auch deshalb seien laut einer IHK-Sommerumfrage über 90 Prozent der befragten Unternehmen mit der Schulpolitik weniger zufrieden bis unzufrieden. „Lehrermangel und der daraus folgende Unterrichtsausfall gehören seit Jahren zu den größten Problemen an Berliner Schulen.“