Mit der DDR ging auch der sichere Unterschlupf für westdeutsche RAF-Aussteiger flöten Die Top-Terroristen von nebenan
Von Marion van de Kraats
Der Zusammenbruch der DDR spülte sie an die Oberfläche: Kampfesmüde, westdeutsche Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF), die in den 1980er Jahren unter den Fittichen der Stasi mit falschen Identitäten im anderen Teil Deutschlands untergeschlüpft waren. Eines der bittersten Kapitel deutscher Geschichte wurde wieder aufgeschlagen – mit unfassbaren Dimensionen.
"Dass jemand wie die RAF-Terroristen in der DDR ein bürgerliches Leben führen könnte – das war für uns kaum vorstellbar", sagt Bundesanwalt Rainer Griesbaum. "Das erschien nicht kompatibel zu dem Schreckensbild einer "Stadtguerilla", als die die RAF auftrat."
Seit mehr als 30 Jahren bekämpft der Jurist, inzwischen Vize-Chef der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, den Terrorismus und immer bleibt die RAF präsent. Zuletzt mit der Anklage gegen Ex-RAF-Terroristin Verena Becker wegen Mittäterschaft zum Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seiner Begleiter 1977. Wesentlichen Anteil daran hat die Wiedervereinigung. Plötzlich konnten die Ermittler auf Quellen zurückgreifen, die versiegelt erschienen.
Neustart mit Stasi-Hilfe
Als erste von den in der DDR untergeschlüpften RAF-Terroristen wurde im Juni 1990 Susanne Albrecht (59), alias Ingrid Becker, festgenommen. Sie hatte durch ihre Freundschaft zur Familie des Dresdner-Bank-Chefs Jürgen Ponto (53) die Ermordung des Bankiers durch die RAF ermöglicht. Kurz nacheinander flogen auch die anderen auf, darunter Silke Maier-Witt, Inge Viett sowie Henning Beer und Werner Lotze – insgesamt hatten zehn frühere RAF-Mitglieder jenseits der Mauer ein neues Leben begonnen.
Die Stasi hatte ihnen einen Neubeginn ermöglicht – während das Bundeskriminalamt weltweit nach ihnen gefahndet hatte. Unter den Fittichen des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) waren die Aussteiger in Neubrandenburg, Ost-Berlin, Magdeburg, Leipzig oder Hoyerswerda und Schwedt zwischen 1979 und 1982 nach intensiver Schulung ins DDR-Leben geschleust worden.
Die Stasi kämpfte mit allen Mitteln darum, dass das Bündnis nicht aufflog: So wurde Silke Maier-Witt eine Nasenoperation verordnet, weil ihre Enttarnung drohte. Das veränderte Aussehen und eine weitere falsche Identität sicherten ihr als Angelika Gerlach den Verbleib im Arbeiter-und-Bauernstaat. Und Susanne Albrecht musste in ein Hochhaus in Berlin-Marzahn umziehen, als 1986 Gerüchte über ihre wahre Identität kursierten. "Als Susanne Albrecht festgenommen wurde, wurde mir klar, wie tief die Trennung zwischen Ost und West tatsächlich war", sagt Klaus Pflieger, Generalstaatsanwalt in Stuttgart.
Der heute 63-Jährige war damals wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Bundesanwaltschaft – und wurde mit voller Wucht von dem Thema RAF erfasst. Es sollte sein Leben verändern: Pflieger wurde zum "Beichtvater" von Terrorist Werner Lotze – dem ersten in der DDR untergeschlüpften Aussteiger, der vor Gericht gestellt wurde.
Lotze stellte sich 1990 den Ermittlern in Karlsruhe freiwillig, während Experten beider Teile Deutschlandes in der Übergangsphase bis zur Wiedervereinigung über komplizierten juristischen Formalitäten zur Auslieferung der RAF-Terroristen brüteten. "Das war ein positives Zeichen dafür, dass er den bewaffneten Widerstand aufgegeben hat", meint Pflieger. Es sei geradezu vorbildhaft gewesen, wie Lotze auf ein förmliches Auslieferungsverfahren verzichtet habe. Entsprechend groß sei seine Erwartungshaltung gegenüber diesem Mann gewesen.
Kronzeugen geschont
Die Beziehung zwischen dem Ankläger und dem Terroristen wurde zum Symbol für den weiteren Umgang mit den RAF-Aussteigern, den einstigen erbitterten Staatsfeinden. "Ich habe damals im Prozess Lotze die Hand zur Begrüßung gegeben – das empfanden die Medien damals als sehr ungewöhnlich", schildert Pflieger. Lotze profitierte 1991 als erster von der strafmildernden Kronzeugenregelung. Wegen Mordes, vierfachen versuchten Mordes sowie schwerer räuberischer Erpressung erhielt er zwölf Jahre Haft. Verbüßen musste er nur die Hälfte der Zeit – wie alle der RAF-Aussteiger aus der DDR. Sie alle kooperierten mit der westdeutschen Justiz – und kamen in den Genuss der Kronzeugenregelung.
Für die Angehörigen der RAF-Opfer ist es schwierig, mit dieser Gnade umzugehen, die den Tätern widerfuhr. Das wissen Griesbaum und Pflieger – aber der Generalstaatsanwalt kennt auch andere Aussagen: "Der Sohn des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer sagte mir einmal, dass er stolz ist, in einem Staat zu leben, der so mit seinen Feinden umgehen kann."
Den Ermittlern ermöglichte der "Verrat" der Aussteiger an den früheren Mitstreitern tiefe Einblicke in die Struktur der RAF. In einigen Fällen wurden durch das neue Wissen auch neue Prozesse möglich – beispielsweise gegen Hardliner wie Christian Klar, eine der Hauptfiguren der zweiten RAF-Generation. Die verantwortlichen Stasi-Mitarbeiter, die sowohl die aktiven Terroristen als auch die Aussteiger in der DDR unterstützt und ausgebildet hatten, blieben jedoch straffrei – die Justiz sah nach der Wiedervereinigung keine Handhabe gegen sie.
Die RAF löste sich 1998 auf. Generalstaatsanwalt Pflieger und viele Mitstreiter führen die Entwicklung wesentlich auf das Verhalten der Aussteiger nach ihrer Enttarnung durch die Wiedervereinigung zurück. Die zehn Ex-Terroristen sind inzwischen alle begnadigt – und haben erneut in ein bürgerliches Leben zurückgefunden.
Susanne Albrecht ist beispielsweise wieder als Lehrerin tätig. Im Sommer 2007 – kurz vor der Landtagswahl in Bremen – sorgte dies kurze Zeit für einen Aufschrei. Die Aufregung ebbte schnell ab, als sich Eltern für Albrecht ihrer bewegten Vergangenheit zum Trotz einsetzten. Inge Viett, die einstige Chefin der Aussteiger, ist immer mal wieder im Fernsehen zu sehen.
Und Werner Lotze hat bis zum heutigen Tag Kontakt zu "seinem Staatsanwalt". "Er hat damals eine Art Lebensbeichte bei mir abgelegt", schildert Pflieger, der sich in seiner Freizeit in der Bewährungs- und Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg engagiert. "Das war auch für mich ein Schlüsselerlebnis – da kommt man sich näher."(dpa)