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Feuer am Brocken

Immaterielles Kulturerbe Segeln im Sinne der Unesco: Als Trainee auf einem Dreimaster

Gemeinsam Segel setzen, an Deck schuften, auch nachts: Das fördert Selbstdisziplin und Teamfähigkeit. Seit 2023 ist Sail Training in Deutschland Immaterielles Kulturerbe. Ein Selbstversuch an Bord.

Von Heidi Scharvogel, dpa 29.07.2024, 00:30
Auf dem Trockenen: Die Lissi in der Fassmer Werft.
Auf dem Trockenen: Die Lissi in der Fassmer Werft. Jens Wilbertz/Schulschiffverein „Großherzogin Elisabeth“ e. V./dpa-tmn

Elsfleth - 3.45 Uhr: Vier Trainees und sechs Mitglieder der Stammcrew treffen sich zur Wachübergabe auf dem Oberdeck der „Großherzogin Elisabeth“. Die Lissi, wie alle den Dreimastgaffelschoner liebevoll nennen, schaukelt auf den Wellen der Nordsee.

Ein kalter Wind pfeift. Sterne und Lichter von Schiffen leuchten im Dunkeln. Wir sind auf einem Wochenendtörn von Elsfleth, das an der Mündung des Flusses Hunte in die Weser liegt, nach Helgoland und zurück.

Von 4 bis 8 Uhr sind wir dafür verantwortlich, dass die Lissi auf Kurs bleibt. Teamwork ist angesagt, denn allein kann keiner ein 115 Jahre altes Schiff wie dieses segeln.

Das beginnt schon beim Steuern: Der wachhabende Offizier sagt den Kurs an, der Rudergänger stellt diesen am hölzernen Steuerrad ein, und ein Ausguck sucht ständig die Umgebung nach anderen Schiffen, Tonnen oder sonstigen Hindernissen ab.

Alles Tätigkeiten, die nach Einschätzung der Deutschen Unesco-Kommission schützenswert sind: 2023 nahm diese Sail Training in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes auf. „Das traditionelle Segeln auf Großseglern verlangt und fördert Kameradschaft, Toleranz und Einsatzbereitschaft“, heißt es auf der Website der Deutschen Unesco-Kommission.

Zudem lehre, fordere und fördere das Leben an Bord Teamwork, Selbsteinschätzung, Selbstdisziplin und soziales Verhalten. Auch Verantwortungsbewusstsein: „Durch regelmäßig durchgeführte Lehr- und Seminargänge wird das Wissen um die Traditionspflege an die nachkommende Generation weitergegeben.“ 

Zum Beispiel an Bord der „Großherzogin Elisabeth“, die dem Schulschiffverein in Elsfleth gehört, der zur Förderung der Ausbildung des seemännischen Nachwuchses gegründet wurde: Alle Trainees, die zur Wache erschienen sind, werden sofort eingebunden.

Auf der Lissi ist Mitarbeit für die Trainees zwar nicht verpflichtend. Einsatzbereitschaft sollten die Passagiere aber schon mitbringen. Gebucht hat man schließlich keine Kreuzfahrt. Die Stammcrew besteht aus ehrenamtlichen Vereinsmitgliedern, die auch beim Tischdecken für etwa 50 Leute oder dem Abwasch Hilfe gebrauchen können.

Ohne Vorwissen am Steuerruder

Ich bin völlig ohne Vorkenntnisse an Bord gekommen, doch sofortiges Anpacken ist gefragt. Ich schaue der Rudergängerin über die Schulter. Crewmitglied Ronja – auf einem Segelschiff duzen sich alle – erklärt mir den Kompass und die Anzeige für die Ruderanlage. Dann übernehme ich das Steuerruder. Der wachhabende Offizier sagt einen neuen Kurs an: „2-1-0“. Gemeint sind 210 Grad.

Ich drehe am Steuerrad. Ganz schön anstrengend, vor allem wenn die Strömung gegen das Ruderblatt drückt. Die Kompassnadel wandert. „Jetzt musst du das Ruder wieder mittschiffs stellen. Sonst übersteuerst du“, sagt Ronja zwei bis drei Grad bevor der neue Kurs erreicht ist. Also zurückkurbeln. Zu langsam! Die Kompassnadel wandert weiter Richtung 211 – gegensteuern … geschafft.

Abgelöst werde ich von dem elfjährigen Louis. Traditionssegler wie die Lissi verbinden Menschen aller Generationen und aus den verschiedensten Bereichen. Die jüngste Trainee dieser Fahrt ist sechs Jahre alt. Auch Mitte 80-Jährige arbeiten mit. Speditionskauffrau, Informatiker, Polizistin, Fahrlehrer und Geologin kommen ins Gespräch. Ganze Lebensgeschichten werden in Zeitraffer ausgetauscht. 

Die Unesco betont auch die Bedeutung des Mitsegelns für junge Menschen. „Wir haben auch immer wieder Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen an Bord, die hier das erste Mal Anerkennung erfahren und Erfolge erzielen“, sagt Kapitän Jens Wilbertz. Das fördert ganz nebenbei die im Sinne der Unesco angestrebte Offenheit und Toleranz.

Gemeinsamer Kraftakt Segel setzen

Langsam schiebt sich die Sonne über den Horizont. Kein beeindruckender Sonnenaufgang, aber es ist schön, wieder mehr zu sehen – vor allem für den Ausguck. Außerdem können jetzt endlich Segel gesetzt werden. Zwei Crewmitglieder legen Klettergurte an und erklimmen das Rigg, um die Taue zu lösen, mit denen die Gaffelsegel am Mast befestigt sind.

Auch Trainees dürfen in Begleitung hinaufklettern – nicht gerade jetzt, denn der Seegang hat spürbar zugenommen. Der ein oder andere kämpft mit Seekrankheit. Kapitän Jens rät: „Mach die Bewegung des Schiffes mit und stell dir vor, dass du sie auslöst.“ Scheint zu klappen. Flau wird zumindest mir nicht. Einer Speditionskauffrau, die in die Schiffsbranche gewechselt ist und in Bremerhaven einige Containerschiffe praktisch persönlich kennt, ergeht es anders. 

Jetzt ran an die Leinen. Die Trainees dürfen der Crew auch hier liebend gerne helfen. Denn um ein Segel zu hissen, sind verwirrend viele Taue und helfende Hände erforderlich. Auf einem Traditionssegler wie der Lissi mit drei Masten und viel Tuch ist geballte Muskelkraft gefragt. 

Zur Koordination positionieren Besatzungsmitglieder die Trainees an den richtigen Leinen. Auf Kommando wird gezogen. Ein Kraftakt. Nacheinander entfalten sich fünf Segel – von 13 insgesamt. Der Motor wird abgeschaltet. Der Wind treibt die Lissi nun Richtung Helgoland.

Seetraditionen und die Macht der Gezeiten

Doppelschläge einer Glocke erklingen: Das traditionelle Glasen zeigt das Ende unserer Wache an. Traditionen wie solche auf See kennenzulernen, ist auch Teil des Kulturerbes. Einige Passagiere lassen sich jetzt das reichhaltige Frühstück schmecken, die Seekranken verschwinden in ihrer Kammer. Erst mal ausruhen.

Der Kapitän nimmt Rücksicht auf sie und steuert Helgoland auf kürzestem Wege an. Anlegen, festmachen. Von mittags bis abends haben die Trainees Zeit für die bunten ehemaligen Fischerbuden am Hafen, die Kegelrobben und Seehunde auf der Düne, Duty-free-Geschäfte sowie die Vogelwelt der Insel, vor allem am Lummenfelsen.

Die Abfahrtszeit bestimmt übrigens nicht der Schulschiffverein, dem die Lissi gehört und der sie betreibt, sondern die Tide. Denn später gegen die Strömung bei ablaufendem Wasser in die Weser einfahren zu wollen, würde zu viel Diesel verbrauchen.

Unsere nächste und letzte Wache zum Ende der Überfahrt verläuft friedlich. Das Wasser der Weser ist ruhig. An einem Sonntagmorgen sind keine entgegenkommenden Schiffe angesagt.

Kurz bevor wir den Heimathafen Elsfleth erreichen, zücken einige Crewmitglieder kleine blaue Heftchen. In diesen werden die ausgeführten Tätigkeiten dokumentiert – die Voraussetzung, um später die Prüfungen zum Leichtmatrosen und Matrosen ablegen zu können. So mancher Trainee ist interessiert. Und vielleicht nicht das letzte Mal an Bord eines Traditionsseglers gewesen - auch im Sinne der Unesco.

Links, Tipps, Praktisches:

Reiseziel: Die „Großherzogin Elisabeth“ befährt die Nord- und Ostsee.

Mitsegeln: Das Angebot für Passagiere reicht von Nachmittagsfahrten auf der Weser, über Wochenendtörns nach Helgoland (für 380 Euro pro Person) bis zu Touren nach Schweden, Finnland, Polen oder in die Niederlande. Während der Hanse Sail in Rostock (9. bis 11. August) und den Maritimen Tagen Bremerhaven (14. bis 18. August) werden ebenfalls Tagesfahrten angeboten.

Reisezeit: Die Saison des Segelschiffs beginnt jeweils im April und endet im Oktober.

Anreise: Der Heimathafen Elsfleth ist mit dem Zug etwa über Bremen oder mit dem Auto über die A27 oder A29 zu erreichen.

Einreise: Richtet sich nach dem Zielhafen. Meist genügt der Personalausweis.

Unterkunft an Bord: Im Preis enthalten ist die Unterbringung in Zwei- oder Dreibett-Kammern mit WC und Dusche sowie Verpflegung. Getränke müssen extra bezahlt werden.

Weitere Auskünfte: grossherzogin-elisabeth.de