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Ukraine-Krieg Ukrainische Familie kommt nach der Flucht in Gommern unter: „Ich wollte nicht flüchten, ich wollte kämpfen“

Derzeit befinden sich zirka 400 ukrainische Geflüchtete im Jerichower Land. Etwa 20 davon in der Einheitsgemeinde Gommern. Viktor Anisimov, seine Frau Tamara, Tochter Viktoria und Enkel Viktor sind bei den Papendiecks untergekommen.

Von Thomas Schäfer Aktualisiert: 11.03.2024, 08:56
Tamara Anisimova (vorn links) und ihr Mann Viktor (sitzend), ihre Tochter Viktoria (Mitte hinten) und Enkel Viktor sind vor Putins Krieg in der Ukraine geflüchtet.
Tamara Anisimova (vorn links) und ihr Mann Viktor (sitzend), ihre Tochter Viktoria (Mitte hinten) und Enkel Viktor sind vor Putins Krieg in der Ukraine geflüchtet. Foto: Thomas Schäfer

Gommern - „Ich wollte nicht flüchten, ich wollte kämpfen“, sagt Viktor Anisimov. Viktor ist ein stattlicher Mann, ein stolzer Ukrainer. Seine Miene lässt keine Zweifel an seinen Worten aufkommen. Doch er ist 70 Jahre alt. „Sie haben mich nicht gelassen. Großvater, haben sie gesagt, nimm dein Großmütterchen und deine Familie, und flüchte - rette dein Leben.“

Seit dem 3. März sind Viktor Anisimov, seine Frau Tamara, Tochter Viktoria und Enkel Viktor in Gommern. Sie haben Glück im Unglück, wenn man es überhaupt so nennen kann: Ihre Tochter Natalie Papendieck ist vor 18 Jahren der Liebe wegen nach Deutschland gekommen. Bei ihr, ihrem Mann Jörg und deren Tochter Lea sind sie untergekommen.

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Ukrainische Familie schon seit der Krim-Annexion in Sorge

„Schon seit 2014, mit der Annexion der Krim, waren unsere Sensoren äußerst sensibel, dass irgendwann noch etwas Schlimmeres in der Ukraine passieren könnte“, berichtet Natalie Papendieck. Richtig daran glauben, dass Russland die Ukraine tatsächlich angreifen würde, konnte niemand. Doch am 24. Februar wurde es bittere Realität.

„Wir waren seither ständig in Kontakt mit meiner Familie. Uns war klar, dass wir sie dort rausholen müssen. Doch sie wollten nicht. Ich muss arbeiten, hat meine Schwester Viktoria gesagt. Doch was ist wichtiger? Arbeit oder Leben?“, erzählt sie.

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Als die Fliegeralarme zunahmen, flüchteten die ukrainische Familie

Ihre Eltern leben in Tscherkassy, einer Stadt mit knapp 300.000 Einwohnern etwa auf halben Weg zwischen den umkämpften Städten Mariupol und Kiew. Als die Fliegeralarme stets zunahmen und sie immer wieder nachts in Luftschutzbunkern Sicherheit suchen mussten, gaben sie ihren Widerstand, zu flüchten, auf.

Natalie Papendieck ist eine in Gommern bekannte Künstlerin. Sie verarbeitet das Kriegsgeschehen in beeindruckenden Bildern.
Natalie Papendieck ist eine in Gommern bekannte Künstlerin. Sie verarbeitet das Kriegsgeschehen in beeindruckenden Bildern.
Thomas Schäfer

Mit dem Auto zur polnischen Grenze zu kommen, war unmöglich und zu gefährlich. Das Gebiet ist von der russischen Armee eingekesselt, berichten sie. Aber die Züge fuhren noch. Sie packten die wichtigsten Papiere ein, beluden Rucksäcke mit wenigen Habseligkeiten und Verpflegung und fuhren nach Lwiw. Von dort ging es mit dem Bus nach Krakowez an der polnischen Grenze.

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Schwager holt ukrainische Verwandte aus Polen ab

„Was ich dort erlebt habe - fürchterlich“, sagt Jörg Papendieck und kämpft mit den Tränen. Er hat die Eltern seiner Frau, ihre Schwester und ihren zehnjährigen Neffen aus einem Auffanglager abgeholt. „Obwohl die Organisation der Polen wirklich gut war, war es schlimm. Unmengen an Menschen, Frauen, weinende Alte, schreiende Kinder - das pure Chaos. “

Jetzt sind sie schon seit über zwei Wochen in Deutschland, ein Land, dessen Sprache sie nicht sprechen, fern der geliebten Heimat. Lieber heute als morgen möchten sie zurück. „Auch wenn sie es nie zugeben würden, sie sind traumatisiert“, sagt Jörg Papendieck.

Ein weiteres Bild von Natalie Papendieck. Eine Taube als Friedenssymbol. Die Hoffnung auf ein Ende des Krieges wächst täglich mehr.
Ein weiteres Bild von Natalie Papendieck. Eine Taube als Friedenssymbol. Die Hoffnung auf ein Ende des Krieges wächst täglich mehr.
Thomas Schäfer

„Als mittwochs um 15 Uhr in Gommern die Sirene losging, hat meine Schwester den Kleinen gepackt, ist losgerannt und hat gerufen, sie müssen runter in den Keller“, sagt Natalie Papendieck und schüttelt vielsagend den Kopf.

Was, wenn Putin gewinnt?

Für den zehnjährigen Viktor ist alles noch ein großes Abenteuer, sagt seine Tante Natalie. So richtig begreifen kann er das alles noch nicht. Doch was, wenn es ein Abenteuer für zwei Monate, zwei Jahre oder gar für immer ist? Was, wenn Putin gewinnt?

Tamara Anisimova schüttelt vehement den Kopf. „Das wird nicht passieren. Die Ukrainer kämpfen bis zum letzten Mann und zur letzten Frau, bis zum letzten Tropfen Blut“, sagt sie mit Bestimmtheit. Der Rest der Familie nickt.

Bald zieht die Familie in einen Bungalow

Wo bis vor zwei Wochen drei Personen lebten, leben nun sieben - mit allen Einschränkungen, die es mit sich bringt. Wenn alles klappt, können Natalie Papendiecks Familienangehörige bald in einen Bungalow umziehen. Die Hilfe ist groß, die ihnen entgegengebracht wird. Dafür sind sie unendlich dankbar.

Doch sie haben auch Angst, Angst vor dem, was wird, wie es weitergehen soll. Angst um jene, die in der Ukraine kämpfen. Auch sie haben Verwandte und Freunde, die zur Waffe gegriffen haben - Männer und Frauen. Die Zuversicht obsiegt. „Slava Ukraini“, sagen sie mit geballter Faust - Ruhm der Ukraine.