25 Jahre Mauerfall Harslebener schwimmen gegen den Strom
Nach dem Mauerfall am 9. November 1989 wollten Millionen DDR-Bürger so
schnell wie möglich rüber und sich im Westen umsehen. Im Wende-November
wurden fast täglich neue Grenzübergänge eingerichtet. Eine Familie aus
Harsleben weihte am 12. November den neuen Übergang bei Mattierzoll mit
ein - in unerwarteter Richtung.
Harsleben/Roklum/Veltheim l Die Stunden und Tage nach dem 9. November 1989 sind Karl-Heinz Fritz aus dem niedersächsischen Roklum noch so präsent, als seien sie gestern gewesen. Mehr noch: Der heute 68-Jährige bekommt immer noch eine Gänsehaut, wenn er an das Wochenende 11./ 12. November 1989 zurückdenkt. Damals strömten Tausende neugieriger Besucher aus dem Osten durch die Gemeinden westseits des nun löchrigen eisernen Vorhangs. Die Harzer aus den Kreisen Halberstadt, Quedlinburg und Wernigerode zog es nach jahrzehntelanger Teilung vor allem in den Westharz. Waren doch mit dem Mauerbau am 13. August 1961 auch viele Familien jäh getrennt worden. Die Familienbande, die über die Jahre oft nur mit kurzen Besuchsreisen aufrecht erhalten werden konnten, galt es nun neu zu beleben.
Zu denen, die sich wenige Stunden nach dem überraschenden Mauerfall ins Auto setzten, gehörte die Familie von Manfred Janz aus Berlin. Am Sonnabend, 11. November 1989, trafen sie bei Gerda und Heinz Bischoff im niedersächsischen Roklum ein. Sichtlich geschafft, denn die rund 240 Kilometer weite Distanz von Ost-Berlin über die Transitautobahn bis zum Grenzübergang Helmstedt und weiter nach Roklum dauerte wegen des riesigen Andrangs Richtung Westen geschlagene zwölf Stunden.
Auch in Harsleben herrschte Aufbruchstimmung. Am 10. November, gegen Mittag, gab es für Uwe Kortum kein Halten mehr. Mit den Worten "Jetzt geht es rüber zu Kalle nach Roklum", lud der damals 28-Jährige seinen Vater Werner zur Tour gen West ein. Zusammen mit Ehefrau Cordula, dem vierjährigen Sohn Enrico und Vater Werner startete Uwe Kortum im Wartburg.
Die Tour ins keine 40 Kilometer Luftlinie entfernte Roklum sollte auch für das Quartett zunächst zur richtigen Tortur werden. Schließlich war so ziemlich der ganze Osten an jenem Freitag dabei, zur Wochenendtour in den Westen zu starten. Der nächste Grenzübergang war aus Harslebener Sicht 50 Kilometer weit weg - der damals größte innerdeutsche Übergang an der Autobahn 2 bei Helmstedt.
Während die Strecke via Schwanebeck heute in knapp einer Stunde zu schaffen ist, war damals stundenlanges Zuckeln im Megastau angesagt. "Schon auf der damaligen Fernverkehrsstraße dauerte es ewig, auf der Autobahn stauten sich damals die Autos zurück bis nach Magdeburg", erinnert sich Uwe Kortum. Die Aussicht, endlich ganz spontan die Verwandten im Westen besuchen zu können, habe die Fahrt aber versüßt. Und nicht nur das: Die Reise hatte einen doppelten Anlass - Uwe Kortums West-Cousin Karl-Heinz Fritz hatte am 11. November Geburtstag.
"Da wollten wir dabeisein, notgedrungen spontan und unangemeldet, denn ein Telefon hatten wir ja nicht", erinnert sich Uwe Kortum an jenes Abenteuer, das nach zehn Stunden nachts um 1 Uhr "bei Tante Irma und Onkel Rudi Fritz" in Roklum endete. Später wurde auch noch Cousin Karl-Heinz besucht, um ihm zu nächtlicher Stunde zum 43. Geburtstag zu gratulieren und in die Arme zu nehmen.
Rudi und Irma Fritz waren 1955 - damals noch ohne große Probleme, aber nur mit einer Handtasche - von Westerhausen zu nahen Verwandten nach Roklum gezogen.
Nun, 34 Jahre später, fuhren die Roklumer mit ihren Überraschungs-Gästen aus der DDR am 11. November nach Mattierzoll, um den eisernen Vorhang mal von Westen aus zu sehen. Von Osten her war das ja unmöglich, weil der Bereich in Grenznähe Sperrgebiet war. Uwe Kortum, der sich noch gut an die tollen Weststraßen ("die waren glatt wie eine Rollbahn") erinnert, wagte einen Schritt in Richtung DDR, über die vom Bundesgrenzschutz mit Pfählen markierte Demarkationslinie hinweg. Der 28-Jährige nahm damit die ebenfalls sehr spontane Grenzöffnung an dieser Stelle wenige Stunden später vorweg.
In den Amtsstuben in Ost wie West herrschte zu diesem Zeitpunkt längst geschäftiges Treiben. Der Druck der Bevölkerung, kurzfristig weitere Grenzübergänge zu schaffen, war in diesen Tagen enorm. Irgendwann stand fest, dass zwischen Mattierzoll und Hessendamm ein weiteres Loch in den Zaun geschnitten wird. Unverzüglich und binnen weniger Stunden.
Für die Deutschen beiderseits des Grenzzauns eine Herausforderung, die sie gern annahmen. Während die Grenzer erfahrene Offiziere vor Ort schickten und die Pioniertruppen mit schwerer Technik heranbeorderten, packten auch Helfer von der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) mit an. Die westdeutschen Bundesgrenzschützer kümmerten sich derweil um Häuschen für die Grenzkontrolleure.
Nach einer nächtlichen Hochleistungsschicht im früheren Todesstreifen war es wenige Stunden später soweit: Um 7.58 Uhr wurde die sprichwörtlich aus dem Boden gestampfte Grenzübergangsstelle (Güst) Mattierzoll/Hessendamm eröffnet. Zünftig eingeweiht wurde die Güst, die Monate später vom Lauf der Geschichte schon wieder überholt sein sollte, von den Miterbauern, den Helfern von der LPG Rohrsheim.
Für die Familie von Manfred Janz und auch für die Kortums aus Harsleben kam der neue Übergang im richtigen Moment. Sie konnten sich den Umweg über die völlig zugestopfte Autobahn 2 sparen.
Mit Spielsachen, allerlei Lebensmitteln und einer großen Palme bepackt, knatterte Familie Janz über die neue Strecke nach Ost- Berlin. "Det bleibt für imma haften", berlinerte Manfred Janz noch viele Jahre später.
Die Gäste aus Harsleben fuhren am Tag der Grenzöffnung gegen 11.30 Uhr mit Herzklopfen ebenfalls zurück in Richtung Osten und gehörten zu den Allerersten, die den Übergang in West-Ost-Richtung passierten. "Das war schon ein komisches Gefühl", erinnert sich Uwe Kortum heute. "Während uns der Strom der Westreisenden auf drei Spuren entgegenkam, schoben wir uns gegen die Flut in Richtung Osten voran. Wir haben damals über 90 Minuten bis nach Harsleben gebraucht", erinnern sich Cordula und Uwe Kortum an die Premierenfahrt. Heute dauert die Fahrt über die B 79 etwa 30, 40 Minuten.
Dass es die junge Familie schon wenige Stunden nach ihrem ersten Westbesuch wieder in Richtung Osten zog, hatte einen einfachen Grund: Vater Werner, der mit im Wartburg saß, feierte an jenem 12. November gerade seinen Geburtstag. Obendrein wartete daheim die zweijährige Tochter.
Kortums sind seither noch unzählige Male zu ihren Verwandten in Roklum gefahren. Schon bald waren jegliche Grenzkontrollen passé, Monate später wuchsen Deutschland Ort und West wieder richtig zusammen.
Ihrer Heimat Harsleben sind Cordula und Uwe Kortum treu geblieben. "Ich konnte nach der Grenzöffnung und der Wiedervereinigung endlich mit ordentlichem Werkzeug und Material mein Haus renovieren", nennt Uwe Kortum einen wichtigen Aspekt. Obendrein konnten sie später Länder besuchen, denen sie vorher bestenfalls auf der Landkarte einen Besuch abstatten konnten. "Sri Lanka und Italien haben wir gesehen und natürlich Ecken in den Deutschland, die vorher undenkbar waren", berichtet der 53-Jährige, der einst wie heute als Schweißer arbeitet. Nun ist er bei einer Firma in Halberstadt beschäftigt, die sich auf den Containerbau konzentriert hat.
Die Familie denkt heute deutschlandweit. Während Mutter Cordula in Quedlinburg im Handel arbeitet, hat es den damals vierjährigen Enrico mittlerweile beruflich nach Bremen verschlagen. Die 27 Jahre alte Tochter Christin arbeitet als Krankenschwester in Magdeburg. "Das ist eben eine Konsequenz der Wende, heute leben viele Familien weit voneinander getrennt", sagt Uwe Kortum.
"Toll, dass alles so gekommen ist. Oft fahren wir quer durch die östlichen Länder zu unserer Enkeltochter, die in Wien studiert", ergänzt der mittlerweile 68-jährige Karl-Heinz Fritz aus Roklum. Seine Frau Inge besuchte jüngst die Hubertusmesse im Nachbarort Veltheim. "Ich bin begeistert. Von der Messe und besonders von der Kirche. Ohne Grenzöffnung wären diese Kirche und viele andere Gebäude im ehemaligen Sperrgebiet heute wohl längst verfallene Ruinen."