Tradition vereint Generationen Mit Video: Wurstsingen in Böddensell - Wilde Bande auf Beutezug
Die Jugend hat das Wurstsingen in Böddensell wieder zum Leben erweckt. Warum die Sänger den Brauch ihrer Urgroßeltern pflegen und in fantasievollen Kostümen durch das Dorf ziehen.
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Böddensell. - Die Spannung steigt. Zahlreiche Schaulustige stehen vor dem Dorfsaal und warten auf die Wurstsänger. „Wir sind wieder da!“, verkündet die wilde Bande.
Wurstsingen in Böddensell: Kreative Brauchtumspflege in der Börde
Seit über 30 Jahren – immer im Februar – sind die Sänger damit beschäftigt, milde Gaben, wie Brot, Wein, Käse, Eier, Schnaps und Süßigkeiten, zu sammeln. In fantasievollen Kostümen gehen sie nun wieder durch eine Welt voller Wunder und chaotischem Spaß auf Beutezug.
„Weißt du nicht, wo Böddensell liegt? Böddensell an der Spetze, wo es die schönsten Mädchen gibt und die größten Schnäpse“, singt Anja Bliesener. Als knallroter Teletubby mit einer Antenne auf dem Kopf und riesigen Ohren spielt sie auf ihrem Akkordeon. In Begleitung von Nico Bliesener – einem Saxofon spielenden Gockel – spielt sie voller Leidenschaft Volkslieder. Die verrückte Bande singt mit und schunkelt im Takt.
Video: Flechtingen: Wurstsingen in Böddensell - Dorfbewohner pflegen Tradition ihrer Urgroßeltern
(Kamera: Anett Roisch, Schnitt Christian Kadlubietz)
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„Wir sind eine tolle Dorfgemeinschaft. Viele Helfer packen mit an“, betont Anja Bliesener, die die Tradition des Wustsingens meist gemeinsam mit ihrem Bruder Jens, der diesmal leider wegen Krankheit ausfällt, organisiert.
Fritz Bliesener ist der Vater von Anja und Jens. „Damals spielte zum Wurstsingen noch eine große Kapelle. Erst war der Maskenball und montags das Wurstsingen“, erinnert er sich. Das Singen entstand in den 1920er Jahren aus der Not heraus. Vom Ursprung her zogen Knechte und Mägde einst durch das Dorf, um von den wohlhabenden Bauern Lebensmittel zu erbitten.
Wurstsingen fördert Zusammenhalt in Böddensell
Nach seinen Erinnerungen war die Tradition in Böddensell um 1960 herum eingeschlafen. Private Landwirtschaft sei in der DDR unerwünscht gewesen. „Wir mussten in der LPG arbeiten“, denkt Bliesener zurück. Vor über 30 Jahren hatte die Jugend des Dorfes dann – zur Freude von Bliesener – das Wurstsingen wieder zum Leben erweckt.
Fast die komplette Familie Bliesener ist dabei. Seine Frau Edith singt als Musketier mit. „Die Kostüme der Teletubbies habe ich selbst genäht“, sagt die 83-Jährige und verrät, dass sie zuhause noch sehr viele Verkleidungen gebunkert habe. „Rotkäppchen und der Wolf hängen – neben langen und kurzen Kleidern – noch im Schrank“, sagt sie schmunzelnd.
Von der Bank aus beobachtet auch Petra Patermann, die seit 1994 in Böddensell wohnt, das bunte Treiben. „Mein Mann Thomas ist hier geboren. In Böddensell ist der Zusammenhalt wunderbar. Immer wieder gibt es einen Grund zum Feiern und zum Tanzen, wie das Kartoffelfest oder auch das Dorffest. Eine Woche vor dem Wurstsingen geht es schon los. Dann überlegen wir, was muss eingekauft oder genäht werden“, beschreibt sie und befüllt schon mal die Schnapsgläser mit Feuerwasser. Die Bewohner des kleinen Ortes schleppen freiwillig Wurst, Schnaps und Eier heran, um die Meute zu besänftigen.
In der Vergangenheit gab es viele ideenreiche Verkleidungen, Bauwerke aus Pappmaschee und prominente Gestalten aus der Menschheitsgeschichte. Welches Dorf kann schon von sich behaupten, eine Horde von Wikingern oder sogar den Papst mit seinem Papamobil zu Gast gehabt zu haben?
Tüchtig essen und bechern
Wo immer die verrückte Bande eine Rast einlegt, wird tüchtig gegessen und gebechert. Carolin und Thomas Kontzog sind mit Tochter Erika gut auf den Besuch vorbereitet. Carolin Kontzog erzählt:
„Ich bin in Böddensell aufgewachsen und kenne das Wurstsingen von Klein auf.“ Bei der Tour ist das Haus der Familie Kontzog das erste. „Da ist noch keiner durchgefroren“, weiß die Hausherrin und verteilt Köstlichkeiten zur Stärkung.
90-Jährige schmiert Stullen
Richtig herausgeputzt hat sich Johanna Wagner. Sie trägt für die Wurstsänger einen Zylinder auf dem Kopf. Die 90-Jährige serviert zur Stärkung ihre überaus beliebten Schmalzbrote. „Ich bin seit 79 Jahren in Böddensell. Es gefällt mir sehr gut hier. Es ist ein wunderschönes Dorf. Die Menschen sind in Ordnung“, sagt die flotte Dame und holt noch den Teller mit den Gewürzgurken aus der Küche.
Andreas Köhn ist der Ortsteilbeauftragte und wirbt als Holzmichel für sein Heimatdorf. „Unser Wurstsingen ist eine uralte Tradition. Wir sind immer mit Eifer dabei. Es gibt jedes Jahr Überraschungen“, schwärmt er und ergänzt: „Prost, wir haben einen tollen Tag. Am Abend im Saal wird getanzt und alles gegessen, was wir heute einsammeln“, blickt Köhn voraus. Und weil dann meist noch so viel übrig ist, wird am Tag darauf Kinderfasching gefeiert.