Betroffene des Attentats berichten Hinterbliebene mit furchtbarem Schmerz nach Anschlag von Magdeburg: „Aber Mutti hat es erwischt“
Zehn Wochen sind seit dem schrecklichen Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt vergangen. Jessica R. wird den Tag niemals vergessen können. Ihre Mama ist dabei ums Leben gekommen.

Magdeburg - Der furchtbare Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt liegt Wochen zurück. Der Schmerz sitzt immer noch tief, vor allem bei Betroffenen. Jessica R. und Annika H., Töchter von Jutta R., die bei der Amokfahrt von Taleb A. ihr Leben verlor, werden den 20. Dezember 2024 niemals vergessen. Der Volksstimme schildert Tochter Jessica R. in bewegenden Worten, wie sie und die Familie den Tag und die Zeit danach erlebt haben:
Wer war Jutta R.? Sie war nicht ,nur’ unsere Mama, sie war Ehefrau (fast 40 Jahre verheiratet) und Oma von fünf Enkelkindern. Ihre Enkel sind die Kinder meiner Schwester (sieben und vier Jahre) und meine Kinder (20, 17 und sieben Jahre). Sie hat ihre Enkelkinder abgöttisch geliebt und unsere Kinder ihre Oma.
Sie fehlt uns jede Sekunde
Sie wird so furchtbar vermisst. Sie fehlt jede Sekunde und überall. Jeden Tag fallen einem Bilder, handgeschriebene Rezepte, Briefe, Karten oder auch Widmungen in Büchern – die man von ihr geschenkt bekommen hat – in die Hände. Sie hatte im Januar 2024 eine schwere Operation, eine Form von Lungenkrebs. Sie hatte eine Höllenangst und hat die Krankheit besiegt. Sie galt als geheilt und krebsfrei. Ab dem 9. Januar 2025 hätte sie für drei Wochen einen Platz in einer Rehaklinik an der Ostsee gehabt. Sie hatte sich sehr darauf gefreut. Sie wäre am 6. März 2025 68 Jahre alt geworden.

Ein warmer und herzlicher Mensch
Meine Mutter hat ihr ganzes Leben gearbeitet und konnte vor knapp zwei Jahren endlich in Rente gehen. Sie war so froh, jetzt mehr Zeit für ihre Familie zu haben. Es war so viel geplant. Gemeinsame Urlaube, Besuche, der 18. Geburtstag meiner Tochter, Abi-Abschluss-Party, Einschulung, der 40. Geburtstag meiner Schwester.
Unsere Mama liebte Musik, sie liebte Tanzen und Konzerte. Sie hat göttlich gekocht. Sie liebte es, im Herbst im Wald spazieren zu gehen und Pilze zu sammeln. Sie liebte die Sonne und kalte Cocktails im Sommer. Sie war die Oma, mit der man Fußball spielen und eine Schneeballschlacht machen konnte. Ein warmer, herzlicher Mensch und eine kleine Partymaus. Sie hat das Leben geliebt und sie wurde geliebt.
Nur auf einen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt
Mit einigen ihrer Freunde wollte sie sich am 20. Dezember 2024 auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg treffen, um sich in den Weihnachtsurlaub zu verabschieden. Sie wollten nur einen Glühwein trinken und eine Kleinigkeit essen und „quatschen“.
Kurz bevor sie mit meinem Vater auf den Weihnachtsmarkt fuhr, habe ich mit ihr telefoniert. Sie sagte mir, dass sie gar keine richtige Lust hat, weil es draußen so kalt ist und es zu Hause so schön warm und gemütlich ist. Ich hatte sie noch ermutigt zu gehen, damit sie ihre Freunde sieht und ein bisschen Spaß hat, nur für ein oder zwei Stunden. Das war das letzte Gespräch, das ich mit ihr führen durfte. Ein letztes Mal ihre Stimme, ein letztes „Tschüss, bis morgen. Gute Fahrt!“.
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Meine Mama war mit ihrer Freundin gegen 19 Uhr zum Flammlachs-Stand gelaufen, hat sich in der Schlange angestellt und mit ihrer Freundin über das Weihnachtsessen geredet, welches sie schon vorbereitet/eingekauft hatte. Dann kam das Auto, fuhr sie einfach um.
Stunden der Ungewissheit
Sie lag über eine Stunde auf dem kalten Boden und mein Vater hat ihre Hand gehalten. Ich hatte meinen Vater angerufen, nachdem wir durch die Medien erfahren hatten, dass etwas passiert ist, auf dem Weihnachtsmarkt. Die Worte meines Vaters werde ich nie vergessen: ,Mir geht es gut, aber Mutti hat es erwischt!’ Sie war – bis zu ihrem Abtransport – bei Bewusstsein, ansprechbar. Sie konnte meinem Vater sogar noch ihre Handtasche geben. Und trotzdem hat sie es nicht geschafft.
Verletzungen waren zu schwer
Hatte sie Angst? Hat sie sich Sorgen um uns gemacht? Hatte sie schlimme Schmerzen? Dachte sie, es wird wieder alles gut? Das werden wir nie erfahren. Um 1.22 Uhr nachts ist unsere Mama auf der Intensivstation der Uniklinik Magdeburg gestorben. Man konnte nichts mehr für sie tun, ihre inneren Verletzungen waren zu schwer.
Mama hat es nicht geschafft
Meine Eltern wollten am selben Morgen um 5 Uhr zu meiner Schwester nach Bayern fahren, um dort die Weihnachtsfeiertage zu verbringen. Stattdessen hat mein Vater die halbe Nacht damit verbracht, telefonisch alle Krankenhäuser in Magdeburg und Umgebung abzutelefonieren, um in Erfahrung zu bringen, wo seine Frau ist und wie es ihr geht.
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Das gleiche habe ich von Spanien aus getan, wo ich mit meiner Familie über die Weihnachtsfeiertage war. Um 3 Uhr morgens, am 21. Dezember, kam der Anruf von meiner Stiefschwester, die mir mitteilte: „Jessi, es tut mir leid, deine Mama hat es nicht geschafft. Sie ist verstorben und ich bin mit Vati gerade im Krankenhaus, er wollte sie unbedingt noch einmal sehen.“
Anruf bei der Schwester
Dann musste ich meine Schwester Annika anrufen und ihr sagen, dass unsere Mama tot ist. Sie hat so geschrien, noch nie habe ich einen Menschen so schreien gehört und ich hoffe, ich muss so etwas nie wieder in meinem Leben hören.
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Als ihre beiden kleinen Kinder morgens wach wurden und fragten, wann denn Oma und Opa kommen, wie lange sie noch warten müssten, musste meine Schwester ihren beiden Jungs sagen, dass Oma und Opa nicht kommen, dass Oma bei einem „Unfall“ gestorben ist. Mein Sohn Adrian hatte am Abend zuvor noch mitbekommen, dass etwas mit Oma nicht in Ordnung ist und dass sie ins Krankenhaus musste.
Oma ist jetzt ein Engel im Himmel
Er fragte mich direkt nach dem Aufwachen, ob es Oma wieder gut geht und ob sie wieder zu Hause ist. Ich habe das Wort „tot“ nicht über die Lippen gebracht und ihm stattdessen erklärt, dass seine Oma jetzt ein Engel ist und von oben für immer auf ihn aufpassen wird. Neben mir saß meine Tochter. Meine Mutter, ihre Oma, war ihr Lieblingsmensch. Sie hat immer von ihrer „süßen Omi“ geredet. Sie war oft in den Ferien wochenlang bei meinen Eltern. Diesen Sommer wollte sie zu ihrer Oma nach Magdeburg ziehen.
Unbeschreibliche Trauer
Mein großer Sohn war zu der Zeit allein in unserer Wohnung in Berlin. Ich habe ihn angerufen und ihm auch mitteilen müssen, dass seine Oma tot ist. Er wollte am gleichen Tag nachmittags eigentlich einen Flug nach Spanien nehmen, um zu uns zu kommen (so war es geplant, Weihnachten eben). Stattdessen musste ich jetzt anreisen, mit dem Wissen, nichts zu wissen. Da war eigentlich nur Verwirrtheit, Angst und unbeschreiblich tiefe Traurigkeit.
Rückreise aus Spanien
Womit haben meine Schwester und ich den 21. Dezember verbracht? Mit der Planung, wie wir es schaffen – sie von Bayern aus und ich aus Spanien – am 22. Dezember bei meinem Vater zu sein. Ich bin am 22. Dezember morgens, zusammen mit meiner Tochter, nach Memmingen geflogen. Dort hat mein Schwager uns vom Flughafen abgeholt. Ich habe meinen kleinen Sohn mit seinem Papa in Spanien alleine gelassen. Das tat auch meine Schwester, sie hat ihre beiden Jungs mit ihrem Vater über Weihnachten zurückgelassen.
Trost und Trauer
Gegen frühen Nachmittag desselben Tages saßen meine Tochter, meine Schwester und ich im Auto auf dem Weg nach Magdeburg. Sieben Stunden Fahrt durch Stau und Schneegestöber. Immer mit dem Gedanken und der Angst: Wir kommen jetzt bald zu Hause an und nichts ist mehr wie es war. Unsere Mutter ist nicht mehr da. Sie öffnet uns nicht mehr freudestrahlend die Tür und nimmt uns fest in den Arm, sagt: „Schön, dass ihr da seid! Habt ihr Hunger?“
Ihr Grünkohl stand noch auf dem Herd
Zu Hause angekommen, war es, als wäre Mama noch da. Da stand noch der Grünkohl auf dem Herd, den sie vorgekocht hatte. Ihr Make-up lag noch neben dem Schminkspiegel im Bad, als hätte sie sich gerade zurechtgemacht. Ihr Haarföhn lag noch am Waschbecken und ihr Pyjama über dem Stuhl. Man hatte das Gefühl, sie kommt gleich durch die Tür und alles ist gut. Aber das tat sie nicht, wird sie nie wieder. Alles, nie wieder ... Meine Schwester und ich waren ganze drei Wochen an der Seite meines Vaters. Wir haben Termine vereinbart, Telefonate geführt, E-Mails geschrieben.
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Wir waren beim Bestattungsinstitut und haben eine Urne für Mama ausgesucht. Wir waren auf dem Friedhof und haben eine Grabstätte für Mama ausgesucht. Wir haben die Sachen von Mama weggeräumt, damit mein Vater „atmen“ kann. Wir waren mit ihm einkaufen, haben gekocht und ihm gezeigt, wie man eine Waschmaschine bedient, Krankenversicherung, Rentenkasse, Hilfen beantragen. Von morgens bis abends waren wir physisch und psychisch unter Vollstrom.
Wir haben geweint und konnten nicht schlafen. Nebenbei haben wir unsere traurigen Kinder am Telefon getröstet, die überhaupt nicht verstehen konnten, warum meine Schwester beziehungsweise ich, die Mamas, an Weihnachten nicht zu Hause sind.