Kunst Sinnlichkeit im Knast
Ein Festival soll das einstige mehr als 100 Jahre alte Gefängnis Magdeburgs in einen Ort der Kunst verwandeln.
Magdeburg l Tim Höhne und Andy Brökel machen eine Verschnaufpause. Möbelrücken ist angesagt. Bohren, sägen, dübeln. Drei Meter über ihnen hängt eine Uhr an der Wand. Und zwar nicht an der Mauer des Wohnzimmers irgendeiner Wohngemeinschaft, sondern im Freien. So frei jedenfalls der Innenhof eines alten Gefängnisses sein kann. Die beiden bauen an ihrer Installation, die, aus gebrauchten Möbeln bestehend, einen Hauch von Wohnlichkeit auf den Platz zwischen den hohen Mauern bringt. Teils skurril überspitzt angesichts des Übereinandertürmens, teils als Verweis auf den Wert von scheinbar wertlosen - weil alten - Dingen.
Ebenso wie viele andere Akteure sind sie jetzt in der heißen Phase. Ein paar Wochen noch, dann muss alles stehen. Auf Initiative des Magdeburger Vereins Kulturanker zieht für diesen Sommer neues Leben in das alte Gefängnis in der Halberstädter Straße 8 in unmittelbarer Nachbarschaft zur Stadtautobahn Magdeburger Ring ein, nachdem die letzten Häftling hier nach einer mehr als 100 Jahre währenden Gefängnis-Geschichte im Jahr 2013 ausgezogen werden.
Die Button Beats bauen auf
Neu gefertigte Möbel gibt es dazu auch. Die Bottom Beats vom Verein Kulturpauke bauen Maßarbeiten. Dominique Renner und Guido Lucke gehören zu einer größeren Gruppe, die mit höchstem ehrenamtlichen Engagement die bislang kahlen Höfe in Räume mit Aufenthaltsqualität verwandeln. Übergroße Holzsessel, Tresen, halbrunde Bänke - alles was gebraucht wird. Dominique Renner sagt: "Solche Dekorationen bauen wir, seitdem wir bei eigenen Partys festgestellt haben, wie sehr man einem Raum so eine individuelle und überraschende Note geben kann."
Alle Bereiche bekommen auf Zeit neue Namen - der große Zellentrakt wird jetzt zum "Grand Palais". Neben Karsten Steinmetz ist Alexander Bieß Vereinsvorsitzender. Er kniet sich ins Zeug für "My Fair Lady". Das Gebäude der einstigen Krankenstation verwandelt sich in einen Ort der Märkte und des Austauschs.
Mode der Nachhaltigkeit
Alexander Bieß sagt: "In einem solchen Maße hatten wir das in den vergangenen Jahren noch nicht." In den vergangenen Jahren - damit sind die großen Vorgängerfestivals gemeint, zum Beispiel Romantik 2.0 im ehemaligen Altstadtkrankenhaus oder Mystique in einem alten Verwaltungsgebäude. Austausch und Messen - das bedeutet zum Beispiel am vom 12. bis 14. Juni das Wochenende der Nachhaltigkeit. Geboten gibt es den Markt der Möglichkeiten, drinnen stellen sich regionale Initiativen vor, als dritten Punkt gibt es eine Podiumsdiskussion. Ein anderes Beispiel für die neuen Wege ist die Kreativmesse am 27. Juni, wenn Handwerker praktisch, dekorativ, verkostbar oder ihr Handwerk assoziativ oder konkret inhaltlich mit Blick aufs Thema Sinnlichkeit oder den historischen Ort vorstellen.
Mit dabei am Wochenende der Nachhaltigkeit ist am 13. Mai Romina Alsleben. Gemeinsam mit jungen Designern gestaltet sie eine Modeperformance. "Es geht zum Beispiel darum, wo und wie Mode produziert wird, aber auch darum, dass wir mit vorhandenem Material arbeiten müssen, dass auch hier der Recyclinggedanke eine Rolle spielen muss." Für August plant sie eine zweite Performance. Dann will sie sich mit dem Ort auseinandersetzen, ihn mit Musik und Licht zu einer besonderen Lokalitiät machen, in der sich die Besucher mit Mode auseinandersetzen können. Auch hier kommt der bereits bei anderen Festivals etablierte Titel "Fashion Who" zum Einsatz.
Rund 300 Akteure - darunter 250 Künstler - gestalten ein überaus vielfältiges Angebot. Das möchte koordiniert werden, und alle Hände voll zu tun hat damit Lisa Reul. Sie wirkt seit 2011 an den Magdeburger Kunstfestivals mit und sagt: "Es ist das erste Mal, dass ich mich um die Belange der Künstler kümmere. In den vergangenen Jahren habe ich unsere Veranstaltungen von einer völlig anderen Seite wahrgenommen. Und um ehrlich zu sein: Das ist wirklich sehr viel Arbeit." Aber eben auch eine Arbeit, die viel Freude bereitet. "Als ich unerwartet von einer Reihe von ihnen Ostergrüße bekam, war ich ziemlich überrascht."
Zu den Künstlern, die sie betreut, gehörte Dieter Gerschler. Gemeinsam mit Magdeburger Kleingärtnerinnen gestaltet er in einem Hof einen femininen Stern. "Wir möchten ihn als Erlebnis für die Sinne gestalten", sagt er.
Ein femininer Stern und Lyrik
Eine zentrale Rolle in diesem Kunstwerk auf Zeit spielen Pflanzen - aus den Gärten, aber auch von der Elbe und aus der unmittelbaren Nachbarschaft des Gefängnisses. "In die Mitte kommt ein Apfelbaum, - den wir aber noch nicht haben", sagt der Hamburger Künstler. Der Stern wird auch als Podium, als Bühne dienen.
Vielleicht ja für die Literatur? Herbert Beesten Herbert Beesten, Magdeburger Literat, Mitglied der Gruppe Schreibkräfte und beispielsweise vor wenigen Wochen maßgeblich beteiligt am Programm Magdeburgs auf der Leipziger Buchmesse, hat hier den Überblick. Bereits bei der ersten Begehung hatte er die Gefängnisgitter genutzt für eine Rezitation von Rilkes "Der Panther". Er sagt: "Das liegt sicher nahe. Aber auf jeden Fall haben wir hier - vom Theaterraum bis zu den Innenhöfen - viele Stellen, an denen die Literatur der Sinnlichkeit unerwartete Facetten verleihen kann." Zum Literaturprogramm gehören unter anderem ein Auftritt der Schreibkräfte am 14. Juni, eine Buchpräsentation der JVA-Schreibwerkstatt Burg mit Ludwig Schumann am 26. Juni und eine Lesung mit Stephan Ludwig am 27. Juni. Als Höhepunkt bezeichnet Herbert Beesten die Veranstaltung am 11. September mit Peter Wawerzinek, Stefan Poetzsch und Bettina Essaka.
Sinnliche Rundungen im Bild
Bei allen Aktivitäten kommt die bildende Kunst nicht zu kurz. Zu den bekanntesten Künstlern in diesem Zusammenhang gehört der nach der Wende nach Wernigerode zurückgekehrte Kunstprofessor und Maler Karl Oppermann. Während der ersten Begehung hatte er noch gefragt: "Ich bin ja nie im Gefängnis gewesen, und was soll ich als alter Mann denn zu einem mit dem Titel ,Sinnlichkeit` überschriebenen Festival noch beitragen?"
Eine Menge, meinen die Initiatoren - und er ließ sich überzeugen und bringt auch einige Freunde mit: Doris von Klopotek, Gertrud Schleising, Karl Anton und Thomas Tuchel. Mit Blick auf die Nummer der ersten ihrer Zellen haben sich die Künstler kurzerhand "Gruppe 231" genannt.
Zu Karl Oppermanns eigenen Arbeiten zur Sinnlichkeit im alten Magdeburger Gefängnis gehören "Notturno" und "Zwiebelfische" - farbenfrohe Mittelformate, in denen sich eindeutig sinnliche Rundungen im ungewohnten Rahmen finden.