Dr. Wilhelm Annecke Wie die Staatssicherheit einen kritischen Lehrer aus Barby aus dem Weg räumte
„Der 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Magdeburg verurteilte den Angeklagten Dr. Annecke wegen schwerer Boykotthetze zu einer Zuchthausstrafe von acht Jahren.“ Dieser Gerichtsbericht über den Barbyer Lehrer stand am 8. Juni 1955 in der Volksstimme. Den Zeitungsausschnitt hob ein ehemaliger Kollege Anneckes auf, der später selbst Schulleiter war.
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Barby - Was mag wohl Günter Vorreier dazu bewogen haben, den reißerisch-propagandistischen Gerichtsbericht aufzuheben? Der Barbyer war von 1956 bis 1987 Direktor der Polytechnischen Oberschule. War ihm der Volksstimme-Beitrag Warnung, stimmte er ihm inhaltlich zu oder widerstrebte es ihm, wie man mit Kollegen umging, die nicht „hundertprozentig auf Linie“ waren. Wie sich sein Sohn erinnert, sei letzteres der Fall gewesen.
Buchhalter in der Barbyer Molkerei
Als Günter Vorreiters geschätzter Kollege Dr. Wilhelm Annecke 1950 wieder als Lehrer an die Friedrich-Engels-Oberschule berufen wurde, war es für ihn eine freudige Stunde, nachdem ihn die sowjetische Militäradministration 1946 als formales NSDAP-Mitglied und Wehrmachtsleutnant aus dem Schuldienst entließ.
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Vier Jahre lang arbeitete Annecke als Hilfskraft in der Landwirtschaft, später als Buchhalter der Barbyer Molkerei. Dort erlebte er das ganze Elend der strangulierenden Sollablieferung, die viele Bauern in den Westen trieb.
Die Wiederaufnahme der pädagogischen Tätigkeit wird den leidenschaftlichen Lehrer – mit 24 Jahren promovierte er in Halle – dazu beflügelt haben, sich auch als Stadtverordneter (LDPD) zu engagieren. Aufgrund seiner liberalen Gesinnung und christlicher Überzeugung lehnte der Oberstudienrat die totalitäre Verbindlichkeit des dialektischen und historischen Materialismus ab. Dadurch geriet er in immer stärkere Auseinandersetzungen mit der SED und unter den Druck der staatlichen Schulaufsicht.
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Es war eine Frage der Zeit, als Annecke 1953 die Lehrberechtigung für die Fächer Geschichte und Gegenwartskunde (später Staatsbürgerkunde) entzogen wurde. Die Abteilung Volksbildung und die Schulinspektion hatten diesen Schritt jedoch so plump begründet, dass sie wegen der energischen, intelligenten Verteidigung Anneckes und des Widerstandes des fast gesamten pädagogischen Rates nicht vollzogen wurde.
Der Oberstudienrat wagte weiterhin einen Spagat, indem er seine Schüler ideologisch „zweigleisig“ unterrichtete. Er vermittelte die offizielle marxistisch-leninistische Geschichtslinie, daneben aber auch kritische, wissenschaftliche Deutungen.
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Am 18. Februar 1955 kam dann, was kommen musste. In seinen Erinnerungen beschreibt Wilhelm Annecke später den filmreifen Hergang seiner Festnahme: Zwei Herren der Staatssicherheit stellten sich als Angestellte des Volksbildungsministeriums vor, um eine „sehr delikate Angelegenheit“ in der Friedrich-Engels-Oberschule zu besprechen.
Ort dieses Gesprächs sollte die Schule sein. Annecke: „Ich verließ mit ihnen meine Wohnung, bestieg einen vor meiner Haustür stehenden Personenwagen, der sofort in Richtung Schule fuhr. Unmittelbar vor der Auffahrt zum Schulgebäude beschleunigte der Fahrer plötzlich das Tempo erheblich und jagte mit hoher Geschwindigkeit dem Stadtausgang zu.“
Nächtelang im Untersuchungsverhängnis in Sudenburg verhört
Im ersten Moment wollte Annecke verdutzt den Weg korrigieren, bekam aber schnell mit, was gespielt wurde. Während der Fahrt nach Schönebeck drückte man den Studienrat in den Sitz, als er lauthals protestierte. Einer der Männer ließ nun die Katze aus dem Sack: „Sie sind festgenommen.“ Danach wurde der Lehrer im Untersuchungsgefängnis Sudenburg tage- und nächtelang verhört, ohne das man ihm mitteilte, was gegen ihn vorlag.
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Mit Spitzel in einer Zelle
In welchem Stil „Politische“ gefügig gemacht werden sollten, beschreiben folgende Erinnerungen: „Die Formen der Verwahrung waren barbarisch; anfänglich mit einer Person zusammen, die ich eindeutig als Spitzel erkannte, dann in strenger Einzelhaft, während der ich monatelang keinen Menschen außer dem Personal zu Gesicht bekam.“

Als Bewegungsraum stand eine Fläche von 1,60 mal 1,20 Meter zur Verfügung, in der Nacht wurde der Häftling ständig angeleuchtet. „Die Behandlung war schikanös, demütigend, entwürdigend, unter ständigen Strafandrohungen und wüsten Beschimpfungen“, erinnerte sich Wilhelm Annecke.
Erst während der Gerichtsverhandlung erfuhr er, welche Anschuldigungen gegen ihn vorgebracht wurden. In der Volksstimme vom 8. Juni 1955 liest sich das so: „Der 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes verurteilte den Angeklagten … wegen schwerer Boykotthetze zu einer Zuchthausstrafe von acht Jahren. Die Hauptverhandlung bewies eindeutig, dass der Angeklagte ein eingefleischter Gegner der Arbeiter- und Bauernmacht, ein ergebener Diener der Feinde des Friedens und der demokratischen Entwicklung ist.“ Konkret warf man Annecke mehrere Westberlin-Besuche vor, wo er Kontakt mit dem „Ostbüro“ der FDP aufgenommen hatte und internes Parteiwissen der DDR-LDPD mitgeteilt haben soll. Laut Anklage handelte es sich um ein getarntes Spionagebüro.
Wahlzettel durchstreichen
In der Anklageschrift wird unter anderem ein besonders schwerwiegender Punkt der Staatsfeindlichkeit hervor gehoben. Annecke hatte sich in einem Brief an das Ostbüro der FDP dafür stark gemacht, dass sich vor der Volkskammerwahl im Oktober 1955 Rundfunksender dieses Themas annehmen sollten. „In den Sendungen sollten die Bürger … aufgefordert werden, in die Kabinen zu gehen und den Wahlzettel durchzustreichen oder „nein“ darunter zu schreiben.“ Doch wer in die Wahlkabine ging, machte sich verdächtig.
Diesen Brief entwendete der Staatssicherheitsdienst bei einem als kriminell fingierten Einbruch in das Westberliner FDP-Büro. In der Folge wurden viele LDPD-Mitglieder verhaftet.
Auch die gleichgeschaltete „Liberaldemokratische Zeitung“ bezog in großer Aufmachung Stellung, um das Tun ihres Parteimitgliedes, das immerhin Vorsitzender des LDPD-Kreisverbandes Schönebeck und Mitglied des Bezirksverbandes war, zu verurteilen. „Der Prozess gegen Dr. Annecke beweist aber auch, dass wir uns stärker als bisher mit negativen und feindlichen Auffassungen innerhalb unserer Mitgliedschaft auseinandersetzen müssen.“ Und: „Dabei muss untersucht werden, ob es sich um Lücken in der Bewusstseinsbildung handelt, oder aber tiefere Gründe vorliegen.“ Das Exempel an dem Barbyer Intellektuellen und die Worte aus der Zeitung wurden von den Lesern als deutlicher Warnschuss verstanden. In der Zeit des kalten Krieges geisterten fast täglich hysterische Spionagegeschichten durch die Presse.
Keine Spionagebeweise gegen kritischen Lehrer
Letztendlich musste sich das Bezirksgericht in seiner Urteilsbegründung auf „Boykotthetze“ beschränken, da für „Spionage“ keine Beweise vorlagen. Das Urteil lautete trotzdem acht Jahre Zuchthaus. Bei „Spionage“ hätte es 15 Jahre oder lebenslänglich bedeutet.
Nach knapp eineinhalbjähriger Haftverbüßung wurde Wilhelm Annecke ohne Angabe von Gründen plötzlich am 6. Juli 1956 in Brandenburg entlassen. Möglicherweise handelte es sich um eine „Gutwetteraktion“ aufgrund einer Intervention des „Kuratoriums Unteilbares Deutschland“.
Flucht in den Westen
Nachdem ihm selbst Arbeit in der Landwirtschaft verweigert wurde und es Hinweise von informierter Stelle gab, dass erneut Verhaftung drohte, flüchtete er in den Westen. Dem Staatssicherheitsdienst war nicht entgangen, dass sich die Entlassung Anneckes unglaublich schnell im Kreis Schönebeck herum gesprochen hatte und sein erster Gottesdienstbesuch in der Johanniskirche beinahe zur politischen Demonstration wurde.
Die beiden Söhne Rüdiger und Wiechert wurden später trotz sehr guter Leistungen von der Friedrich-Engels-Oberschule verwiesen; Rüdiger Annecke drei Tage vor dem Abitur. Ihm wurden vom Kreisschulrat und einem Stasi-Mann Zulassung zum Abitur und sogar Studienförderung angeboten, wenn er öffentlich seinen Vater als „Klassenfeind“ denunzieren würde. Was er ablehnte. Danach folgte die Familie Dr. Wilhelm Anneckes in den Westen.
Dort nahm er seine Lehrtätigkeit wieder auf, war bis 1975 als Oberstudiendirektor Leiter des Humbold-Gymnasiums in Solingen.
1984 starb Wilhelm Annecke. Er erlebte weder die Wiedervereinigung, an die er nie den Glauben verloren hatte, noch seine Rehabilitierung durch das Landgericht Magdeburg im September 1993.
In das Bewusstsein der Barbyer Bevölkerung ging Dr. Wilhelm Annecke als „Spion“ ein, was sich bis heute hartnäckig gehalten hat.
Seine Rehabilitierung von 1993 war ungleich unspektakulärer als die politische Kampagne des Jahres 1955, als die SED an ihm das Musterbeispiel eines „politischen“ Prozesses vollzog.