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Fünf Monate mussten Berufspendler wegen der Flut zwischen Stendal und Berlin improvisieren Büroschlaf in Zeiten des Gleisbruchs

Von Frank Eckert 09.11.2013, 10:00

Ihr geteiltes Leid hielt über fünf Monate. Solange konnten die Berufspendler nur auf Umwegen ihren Arbeitsplatz in der Bundeshauptstadt erreichen. Solange war der Schienenweg unterbrochen auf den sonst üblichen Trassen. Drei Betroffene berichten.

Stendal. Berlin schien soweit weg wie der Mond von Stendal - also nahezu unerreichbar in den ersten Wochen nach dem Deichbruch bei Fischbeck in der Nacht zum 10. Juni 2013, einem Montag; einem Montag am Wochenanfang mit viel Arbeit vor Augen. Doch nun ging ihr ein täglicher Kampf zwischen dem Zuhause und dem Büro jenseits des Flutgebietes voraus.

"Wir waren eine Art Schicksalsgemeinschaft", erzählt Christina Raddatz. Die 34-Jährige arbeitet seit Januar 2010 als Verwaltungsangestellte im Herzen Berlins. Dorthin geht es seit vergangenem Montag wieder nahezu reibungslos, was zuvor einer Odyssee gleichkam. Dieser 4. November ist ihre Rückkehr in den Alltag des Pendelns. "In den ersten Wochen hatten wir einen Arbeitsweg von manchmal sechs Stunden hin und zurück", rechnet Marcus Elsner vor. Aber: "Man gewöhnt sich ja an alles." Bei Elsner kam es auch vor, dass er statt wie sonst üblich den Abendzug nach Stendal in Richtung der eigenen vier Wänden zu nutzen, schon mal im Unternehmen nahe der Warschauer Straße in Berlin-Friedrichshain die eine oder andere Nacht verbrachte.

Dieser aus der Not geborene Büroschlaf in Zeiten des Gleisbruchs wird nun eine der Fußnoten dieses Jahres 2013 bei ihm sein. Elsner sagt, er habe viel Verständnis seiner Mitarbeiter für die besondere Situation in den Monaten nach der Elbe-Flut gespürt. Eine Wahl hatten sie auch kaum; Elsner ist Leiter einer von fünf deutschlandweit verstreuten Niederlassungen der IWB Ingenieur-Planungsgesellschaft. Sie entwerfen Wohnungen, Indust­rie- oder Hafenanlagen. Ohne den Chef geht da kaum etwas. Zwei bis drei Mal sei er mit dem eigenen Wagen über die Bundesstraße 189 bis kurz vor Magdeburg und dann über die Autobahn 2 bis Berlin gefahren.

Gemeinsam zum Zug nach Rathenow

Das änderte sich dann, als wenigstens die Bundesstraße 188 ins brandenburgische Rathenow ab Anfang Juli wieder frei befahrbar wurde. "Wir haben dann eine Fahrgemeinschaft gebildet und sind von dort aus in den Regionalexpress nach Berlin gestiegen." Improvisieren wurde über die Flutwochen so zu einer der wachgerüttelten Tugenden solcher Menschen wie Elsner. Sabine Wienecke, die bei einer großen Berater-Firma mitten in Berlin tätig ist, empfand es vor allem als schlimm, "dass man nicht wusste, ob und wann man an einem Tag wieder zurück war". Das galt zuvorderst in den ersten beiden Wochen nach dem Deichbruch. Wir haben uns täglich neu an die veränderte Lage angepasst." Smartphone und die Bahn-App, eines jener Miniprogramme für internetfähige Handys, hätten, berichtet die 46-Jährige, "geglüht, und dann hieß es informieren, entscheiden, fahren und gegebenenfalls wieder umdisponieren".

Sie wie auch Marcus Elsner oder Christina Raddatz teilten ein sehr gegenwärtiges Gefühl: Die Deutsche Bahn ließ sie mit ihren Pendler-Problemen weitgehend alleine. "Die wussten am Anfang genauso wenig Bescheid wie wir", sagte Christina Raddatz. Da seien die ersten Wochen beispiellos schlimm gewesen. "Noch nicht mal von der Sperrung der Brücke über die Elbe haben sie etwas gewusst." Die Bahn ist eben Bahn; Straßen gehören nicht zu den angebotenen Alternativen.

Christina Raddatz hat in den Monaten das Autofahren weder sonderlich genossen noch sich daran gewöhnt. Im Gegenteil: 2000 Kilometer mehr hat sie über die Straßen während der Sperrung der Bahnlinie zurückgelegt. Damit ließe sich ja noch auskommen. "Aber ich hatte auch einen Wildunfall mit meinem Auto." An einem Sommermorgen war ihr ein Reh kurz vor 6 Uhr morgens vor das Auto gelaufen. Schaden, Zeitverlust, Aufregung - alles inklusive. Jetzt kämpft sie erneut - mit den bürokratischen Mühlen der Deutschen Bahn. Ihre zwischenzeitlich stillgelegte Abo-Fahrkarte trägt trotz mehrfachen Versuchen noch immer nicht die richtige Beschriftung. "Mal sehen, wann ich die Richtige in der Hand habe." Dennoch betont sie wie auch Elsner und Sabine Wienecke: "Unsere Probleme sind nichts im Vergleich zu den Menschen, deren Haus in der Flut unterging."

Die Bahn atmet seit Montag erst einmal durch. "Der Start des regulären Zugverkehrs nach den Reparaturen ist reibungslos verlaufen", äußert Änne Kliem von der Deutschen Bahn in Leipzig. Die Umleitungen seien eine Herausforderung für Reisende wie für ihr Unternehmen gewesen. Bei etwa 80 Millionen Euro lägen die Einnahmeverluste. Zwischen Berlin und dem Rheinland soll es im kommenden Jahr für die am stärksten vom Hochwasser betroffenen Verbindungen keine Preiserhöhungen geben, stellt Kliem in Aussicht. Stendal liegt da mittendrin.