Eine Mutter kämpf seit Jahrzehnten gegen ihre psychische Erkrankung. Depression: Wenn Arbeit krank macht
Sie kam ganz leise. Wie ein zaghaftes Klopfen an die Tür. Doch aus dem Klopfen wurde ein Hämmern, das bis zur maßlosen Erschöpfung geführt hat. Die Sekretärin Irene Fischer* hat sich lange gegen ihre Depression gewehrt.
Stendal l "Mein Kopf ist krank." Ein Satz, den Irene Fischer* jahrzehntelang unterdrückt hatte, ist aus ihr herausgeplatzt. Einfach so, an diesem Tag im Mai im Jahr 2008, als sie sich, wie schon so oft, auf Arbeit krank melden musste.
Dass die Sekretärin und Mutter zweier Kinder einmal gern zur Arbeit gegangen war, ihren Beruf liebte und ohne Sorgen nach Hause kam, war längst Vergangenheit. Nur schemenhaft erinnert sich Irene Fischer an diese Zeit. "Das war Ende der Siebziger bis Ende der Achtziger." Da arbeitete sie lediglich sechs Stunden am Tag - wegen ihrer Kinder.
Doch damit war von einem auf den anderen Tag Schluss. "Ich bekam eine neue Vorgesetzte und wechselte wegen ihr die Stelle." Die ersten Anzeichen für körperliche und vielleicht auch seelische Beschwerden nahm sie da noch nicht für voll. Die Magenschmerzen zeigten ihr, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmte. Aber sie verschwanden genau so plötzlich, wie sie gekommen waren.
Irene Fischer fand eine neue Stelle als Sekretärin, arbeitete nun aber Vollzeit. Und sie bekam mehr Verantwortung. Sie wurde die Sekretärin, übernahm Leitungsaufgaben. "Eigentlich wollte ich das gar nicht machen, aber ich wurde bestimmt", erinnert sich die Stendalerin. So war sie eben, nie hätte sie sich dem Willen ihres Vorgesetzten widersetzt.
Die größte Hürde: Sie bekam einen Computer, musste ihre geliebte Schreibmaschine aufgeben. Doch all das, was sich damals endlos vor ihr auftürmte, bewältigte die Mutter. Richtig stolz ist sie noch heute auf sich, wie sie damals alles gemeistert hat. Doch dafür opferte sie viel: "Manchmal ging mein Tag von 7 bis 21.30 Uhr. Ich musste mich ja in alles neu einarbeiten, da war keiner da, der mir half." Und dann waren sie plötzlich wieder da, ihre Magenschmerzen. Und diesmal verschwanden sie nicht, sie plagten Fischer so sehr, dass sie fünfmal im Jahr eine Magenspiegelung über sich ergehen ließ. Doch die Ärzte konnten nichts finden. Den Satz, den Fischer von den anderen hörte, wollte sie da nicht wahrhaben: "Das ist wahrscheinlich deine Seele!"
"Irgendwann reichte mir nicht mal mehr das Wochenende zum Erholen."
Nach sechs Jahren Vollzeit stellte sie einen Umsetzungsantrag, doch ihr Vorgesetzter bat sie zu bleiben. Und sie gab wieder nach. Und wieder nahm der Arbeitsstress zu - und der Teufelskreis seinen Lauf. Sie wollte das enorme Arbeitspensum schaffen, allein, nahm die Arbeit mit nach Hause. "Ich arbeitete, schlief, ging wieder zur Arbeit, irgendwann reichte mir nicht mal mehr das Wochenende zum Erholen."
Dann kam der Tag, an dem die Sekretärin wegen einer längeren Erkrankung von ihrer neuen Kollegin vertreten werden musste. Als Irene Fischer danach wieder auf der Arbeit erschien, nahm ihr Vorgesetzter die Hilfe der anderen nun immer häufiger in Anspruch. Fischer fühlte sich wertlos, litt regelmäßig unter Magenschmerzen sowie Schlafstörungen und ging Mitte der Neunziger endlich zu einem Psychiater. "Sie sollten aufhören zu arbeiten", riet der ihr. Unmöglich, dachte Irene Fischer: "Ich war Hauptverdienerin." Machte also weiter. Alle paar Wochen war sie jetzt krank, mehrmals im Jahr bekam sie eine Bronchitis; Gürtelrose und Halswirbelsäulen-Blockierung gesellten sich dazu. Ihre Aufgaben als Sekretärin übernahm jetzt die andere. Und die meisterte ihre Sache sehr gut. Auch der Vorgesetzte bemerkte das. Fischer spricht von Mobbing. "Er wollte mich nicht mehr." Ihr Vorgesetzter gab ihr keine Aufgaben, und Fischer griff zu Tabletten. "Ab 2003 fing ich an, regelmäßig Antidepressiva zu nehmen."
Sie schämte sich dafür. Natürlich blieb ihr Zustand ihrem Ehemann nicht verborgen, aber er verstand das nicht so, erzählt sie, sagte nur: "Du siehst schlecht aus." Schlafstörungen, Kribbeln im ganzen Körper und Magenschmerzen plagten sie täglich. Dann kommt dieser Tag im Mai 2008. Völlig erschöpft fühlt sie sich, und ihr Psychiater sagt: "Wenn Sie jetzt nicht aufhören zu arbeiten, dann wird das alles nichts mehr." Unangekündigte Personalgespräche auf Arbeit folgen, ein längerer Aufenthalt in der Psychiatrie. Obwohl Irene Fischer maßlos erschöpft ist, kämpft sie dagegen an, will arbeiten, in eine andere Abteilung wechseln. Doch dort bekommt sie keine Unterstützung. Im August 2009 wird die Sekretärin krankheitsbedingt berentet. "Da erst habe ich auch meine Kinder eingeweiht", gesteht sie, "aber die gingen ja längst ihre eigenen Wege."
Irene Fischer ist längst nicht gesund. Die Aufenthalte in der Klinik und ihre Selbsthilfegruppe haben ihr geholfen. Doch wenn sie länger als zwei Stunden am Tag arbeitet, ist dieses Knistern im Kopf wieder da. "Und dann brauche ich Tage, um zur Ruhe zu kommen." Richtig frei fühlt sie sich, wenn sie zur Ergotherapie geht. Da malt sie oder macht Laubsägearbeiten. Dann hat sie mal nicht das Gefühl, dass ihr Kopf in einem Schraubstock steckt. Von der Heilung ihrer Krankheit aber fühlt sie sich meilenweit entfernt.
*Name von der Redaktion geändert