30 Jahre Mauerfall Dachzelt für den Trabant
Vor 40 Jahren stellte Gerhard Müller das erste Autodachzelt der DDR auf ein Trabantdach.
Der aufmerksame Fernsehzuschauer stellt fest: In keinem TV-Rückblick der vergangenen 30 Jahre auf das Freizeitleben in der DDR fehlte die Lust ihrer Bürger, sich nackig am Ostseestrand zu tummeln und zwischen Kap Arkona und dem bulgarischen Schwarzen Meer dem Trabant aufs Dach zu steigen, um dort zu nächtigen. Das Autodachzelt, 1979 erstmals in Limbach-Oberfrohna, nahe dem damaligen Karl-Marx-Stadt produziert, darf als eine DDR-Spezialität angesehen werden.
Nicht, dass Gerhard Müller das Autodachzelt als solches erfunden hätte. Nein, schon in den 1930er Jahren pflegten Abenteurer auf motorisierten Reisen durch unbewohnte Gegenden, etwa auf Wüstendurchquerungen, diese Form des Übernachtens. In den 1950er Jahren legten Firmen in der Bundesrepublik und in Italien kleine Serien solcher Zelte auf, die dann auch in üblichen touristischen Gegenden gesichtet wurden. Müllers Verdienst bestand darin, diese Idee aufgegriffen und unter den ganz speziellen wirtschaftlichen Bedingungen der DDR umgesetzt zu haben.
Als dann am 9. November 1989 die Berliner Mauer und bald auch die innerdeutsche Grenze gefallen waren, entlud sich die über Jahrzehnte angestaute Reiselust der DDRler in einem Maße und in Formen, die das Autodachzelt ins Abseits drängten. Der ohnehin wirtschaftlich schwache Kleinproduzent Gerhard Müller verpasste den Sprung in die Marktwirtschaft, auch, weil er zwar ein talentierter Tüftler, aber kein seriöser Geschäftsmann war.
Hier die ganze Geschichte. 1930 in Kaufungen, heute Ortsteil von Limbach-Oberfrohna, geboren, lernt Gerhard Müller Landmaschinenschlosser und arbeitet auf dem Hof seiner Eltern. Mit dieser Ausbildung lässt sich im Nachkriegsdeutschland einiges anfangen. Aber Müller tickt anders, will sich nicht einem üblichen Lebenslauf unterwerfen. Ihn zieht es in die Welt hinaus.
1948 war es noch relativ einfach und ungefährlich, die Zonengrenzen im besetzten Deutschland zu überwinden. Wer aus der sowjetischen Zone flieht, sucht sein Heil meist in einer der drei von den westlichen Siegermächten besetzten. Nicht aber der Sachse Müller. Er sucht, so der Eindruck auf sein Leben im Rückblick, eine andere Art Leben: kein zu deutsches, durch und durch organisiertes, am Erfolg ausgerichtetes und sorgsam mit dem Geld umgehendes. Gerhard Müller will rundum freier sein, genießen. Dafür scheint ihm Frankreich wohl der rechte Ort.
Was er dann dort die folgenden zehn Jahre treibt, ist im Detail nicht bekannt. Er hat sich dazu offensichtlich nie ausgelassen. In seinem Nachlass, den seine Tochter Sylvia verwahrt, findet sich ein Personaldokument, das ihn als Bürger von Fontanil bei Grenoble ausweist. Als Beruf wird „Mécanicien“, also Mechaniker angegeben. Das deckt sich in etwa mit dem, woran sich seine Tochter erinnern kann. Sie meint heute, ihr Vater hätte angedeutet, in Frankreich in seinem Beruf gearbeitet zu haben, also als Mechaniker in der Landwirtschaft.
Ende der 1950er kehrt Gerhard Müller offensichtlich so unkompliziert und unbeschadet wieder zurück, wie er einst auszog. Die Eltern sind erkrankt und rufen um Hilfe für den Hof. Eine solche von DDR-Seite unbehelligte Rückkehr ist ungewöhnlich. Wer aus dem Westen rüber in den Osten machte, noch dazu als Rückkehrer, war dem DDR-System prinzipiell suspekt. Diese Menschen landeten in aller Regel erst einmal in Aufnahmelagern, in denen sie überprüft und für die DDR ideologisch fit gemacht wurden. Neben der Unterstützung der Eltern durchläuft der „Franzose“, wie er fortan genannt wird, eine Ausbildung zum Berufskraftfahrer und arbeitet später in einem Betrieb des VEB ORSTA-Hydraulik in Karl-Marx-Stadt.
Der Beiname, den er sich mit seiner zehnjährigen Abwesenheit erworben hatte, war keineswegs ein Kosename. Ganz im Gegenteil. Denn er war nicht nur weg gewesen, er pflegte den von seiner Umwelt als eher französisch empfundenen Lebensstil auch weiterhin. Damit handelte er sich schiefe Blicke und Getuschel ein. Seine Tochter Sylvia litt unter diesem Ruf des Vaters, wurde von anderen Kindern gehänselt oder gar gemieden.
Aber Menschen dieses Schlages zeichnen sich oft durch eine besondere Kreativität aus, kommen auf Gedanken, die den Angepassten und Braven fremd bleiben. Müllers „abwegige“ Gedanken kreisen bald um ein Projekt, dessen Anstoß nicht sicher ist. Manche, die ihn kannten, wollen wissen, dass er dem Wunsch nach einem Autodachzelt schon in Frankreich nachgehangen hat, weil er es dort einmal sah oder davon hörte.
Mitte der 1960er Jahre für kurze Zeit verheiratet und Vater geworden, reist der geschiedene Gerhard Müller in den frühen 1970er Jahren mit seiner Freundin Inge nach Rumänien, mit ihrem Trabant und Zelt. Auf diesen Reisen soll er sich mit dem abendlichen Zeltaufbau schwergetan haben. Da sei ihm der Gedanke an ein Bett im Zelt auf dem Autodach gekommen - meinen andere.
Nachweislich ist dagegen die erste öffentliche Vorstellung einer solchen Dach-Ergänzung. Nachzulesen in der Zeitschrift „Der Deutsche Straßenverkehr“ Heft 9/1976. Es dauert dann bis 1979, eine Serienreife zu erzielen und sein Vorhaben juristisch abzusichern. Das Patentamt der DDR stellt ihm die Patentschrift 143 578 aus. Sie lautet auf einen „Dachgepäckträger mit Zeltaufbau für Pkw“. Korrekt hätte sich die Patentschrift auf den Pkw Trabant beschränken können, denn nur für diesen Pkw war eine zusätzliche Abstützung des Dachgepäckträgers nötig. Müller selbst führte in der Folgezeit den Beweis dafür an, produzierte die Dachzeltkonstruktion auch für andere Pkw – ohne die zusätzlichen, patentierten Streben.
Als angemeldeten Kleingewerbeproduzenten wies man ihm zwar die begehrten „Bilanzanteile“ zu, also die Genehmigung, offiziell zugeteiltes Material kaufen zu dürfen. Das reichte aber vorn und hinten nicht, weder in der Menge noch in der jeweils notwendigen Struktur. Mal gab es keinen Zeltstoff, mal keine Druckknöpfe und dann wieder Reißverschlüsse en masse. Als kleiner Privatbetrieb überleben konnte nur, wer „organisieren“ konnte.
Und Gerhard Müller war darin ein Meister: rührig, schlitzohrig, beweglich. In der besser versorgten Hauptstadt Berlin kaufte er delikat ein und tauschte Köstlichkeiten gegen die Bereitschaft, benötigtes Material über seine Bilanzanteile hinaus kaufen zu können. Diese Organisations-Leistung ist, im Nachgang gesehen, sein größter Verdienst, den nur würdigen kann, wer die damaligen Verhältnisse kennt, unter denen solch kleine Privatunternehmen wirtschaften mussten, existieren durften.
Die Dachzelte fallen auf, die Nachfrage steigt schnell an. Müller produziert wöchentlich zwei, manchmal drei Zelte. Ihm reicht, was seine Lebensgefährtin näht, er und ein ständiger Angestellter sowie die eine oder andere Aushilfskraft schweißen und als Sattler zusammenfügen. Wobei: Das disziplinierte Arbeiten in der Produktion ist seine Sache nicht. Er ist am liebsten auf Achse, lebt auf großem Fuß, gibt mehr Geld aus, als er sich leisten kann. Die Zelte verkauft er immer sonnabends im Direktvertrieb für anfangs 1340 Mark, später für 1610 Mark.
Daraus entwickeln sich erste kleine Treffen mit angesagter Party. Bald organisiert er zunächst in der näheren Umgebung, später auch an weiter entfernten Orten jährliche Treffen für die Dachzeltgemeinde. Ab 1984 trifft sie sich regelmäßig zu Pfingsten. Müllers lockerer Umgang mit dem Geld macht ihn in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zum permanenten Schuldner. Er kann Lieferanten nicht mehr bezahlen, verliert Geschäftspartner und Freunde. Den Rat seiner Tochter, die gemietete Produktionshalle zu einem Spottpreis zu kaufen, schlägt er aus.
So ohnehin angeschlagen, stolpert Müller in die Wendezeit, in der seine potenziellen Ost-Kunden plötzlich andere Reiseformen wahrnehmen können. Er verliert über Nacht die gemietete Produktionshalle, träumt aber von einer Produktion im großen Maßstab für einen größeren Markt. Aber dafür benötigt er Geld von den Banken. Sie halten sich jedoch bedeckt, sehen in ihm keinen vertrauenswürdigen Kreditnehmer.
Dann setzt Gerhard Müller alles auf eine Karte, verkauft Haus und Grundstück. Die letzte Fassung des Kaufvertrages enthält eine Klausel, die er nicht zur Kenntnis nimmt oder zumindest in ihrer Tragweite nicht begreift. So verliert er tragischerweise Hab und Gut, sieht kein Geld, zerbricht an Leib und Seele. Er stirbt 1999 auf einer Fahrt nach Polen während einer Wartepause an der Grenze.
Seit 2009 kommen die Müller-Zelt-Freunde einer neuen Generation wieder jährlich zu „Treffen der Neuzeit“ zusammen. Die Zelte thronen weiterhin vorwiegend auf Trabantdächern, leuchten aber in frischen Farben der inzwischen erneuerten Stoffe. Sie sind, wie damals, Ausdruck einer eigenen Art, Freizeit zu erleben und Anlass, sich zu treffen.