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Opfer identifiziert Anschlag in Halle war rechter Terror

Ermittler stufen den Anschlag von Halle als rechten Terror ein. Die Opfer sind identifiziert. Die Polizei sichert vier Kilo Sprengstoff.

10.10.2019, 07:53

Halle (vs/dpa/muß) Nach dem Anschlag in Halle sind die erschossenen Opfer identifiziert. Es handelt sich um eine 40 Jahre alte Frau aus Halle sowie einen 20 Jahre alten Mann aus Merseburg. Die Frau war am Mittwochmittag von dem schwer bewaffneten Täter vor der Synagoge erschossen worden, der Mann wenig später in einem nahen Dönerladen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender kamen am Donnerstag nach Halle. Sie legten unter anderem am Tatort bei einem Döner-Imbiss Blumen nieder. Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) besuchte Donnerstagmittag in Halle den Tatort. Er legte am Donnerstag an der Synagoge Blumen nieder.

Steinmeier forderte eine klare Haltung gegen Rechtsextremismus. "Wer jetzt noch einen Funken Verständnis zeigt für Rechtsextremismus und Rassenhass, wer die Bereitschaft anderer fördert durch das Schüren von Hass; wer politisch motivierte Gewalt gegen Andersdenkende, Andersgläubige oder auch Repräsentanten demokratischer Institutionen (...) rechtfertigt, macht sich mitschuldig", sagte Steinmeier am Donnerstag in Halle bei seinem Besuch am Tatort.

Zugleich müsse klar sein, dass der Staat Verantwortung übernehme für die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland. "Und ebenso klar muss sein: Die gesamte Gesellschaft muss Haltung zeigen, eine klare, eine entschiedene Haltung der Solidarität mit den jüdischen Mitmenschen in unserem Land – und das unter Beweis stellen", so Steinmeier.

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle, Max Privorozki, bekräftigte seine Kritik an den Sicherheitsbehörden. Es gebe insgesamt Versäumnisse beim Schutz jüdischer Objekte in Sachsen-Anhalt, beklagte er am Donnerstag am Rande des Besuchs von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Halle. Es sei ein "großes Wunder" gewesen, dass die Eingangstür der Synagoge den Schüssen des Angreifers standgehalten habe. "Wir wussten nicht, ob wir lebend aus der Synagoge rauskommen." Gleichzeitig mahnte Privorozki ein größeres Augenmerk für das Judentum in Deutschland an. Ein derart großes Interesse am jüdischen Leben müsse normal sein – nicht nur an solchen Tagen.

Nach den Schüssen auf die Synagoge in Halle/Saale und dem Tod von zwei Menschen wurde die Wohnung des mutmaßlichen Täters in Benndorf bei Eisleben durchsucht. Dabei seien Beweismittel sichergestellt worden, sagte ein Sprecher der Bundesanwaltschaft am Donnerstagmorgen. Dort hat der Mann mit seiner Mutter gelebt. Die Polizei hatte das Wohnhaus abgesperrt. Nachbarn kennen den 27-Jährigen seit der Kindheit und beschreiben ihn gegenüber der Volksstimme als unauffällig. "Mir wäre nicht in den Sinn gekommen, dass er zu einer solchen Tat fähig wäre", sagte ein Nachbar.

Der mutmaßliche Täter war zuvor offenbar nicht als Rechtsextremer aufgefallen. Geprüft werde, ob es Mittäter gegeben habe. Die Bundesanwaltschaft sieht die Tat rechtsextremistisch und antisemitisch motiviert – auch das Bekennervideo sei eindeutig antisemitisch und rechtsextremistisch.

Nach seiner Flucht wurde der Todesschütze von Halle auf der Bundesstraße 91 südlich von Halle festgenommen. Dies erfuhr die dpa am Donnerstag aus Sicherheitskreisen. Zu dem Zugriff kam es den Angaben zufolge auf Höhe des Ortes Werschen in der Nähe von Hohenmölsen rund 45 Autominuten südlich der Saalestadt durch Spezialkräfte.

Zuvor führte die Flucht aus Halle in den Ort Landsberg etwa 15 Kilometer östlich der Saalestadt. Im Ortsteil Wiedersdorf gab der 27-Jährige Schüsse auf ein Ehepaar ab, wechselte das Auto und setzte seine Flucht mit einem gekaperten Taxi fort.

"Er hat geplant, Menschen zu töten", so ein Ermittler. Letztlich habe er aber seinen Anschlagsplan nicht umsetzen können. Einzelheiten über den offenbar verletzten 27-jährigen Stephan B. aus Sachsen-Anhalt wurden zunächst nicht bekannt. Derzeit wird das Umfeld des Mannes ermittelt.

Ermittler und Bundesregierung werten den Angriff auf eine Synagoge in Halle als einen rechtsextremistischen Terroranschlag. "Was wir am Mittwoch erlebt haben, war Terror", sagte Generalbundesanwalt Peter Frank am Donnerstag in Karlsruhe. Der Täter habe sich zum Ziel gesetzt, in der Synagoge ein Massaker anzurichten und eine weltweite Wirkung zu erzielen. Nach Angaben von Justizministerin Christine Lambrecht handelte es sich bei dem 27-jährigen Schützen um einen Einzeltäter mit antisemitischen und rechtsextremistischen Motiven.

Im Auto des mutmaßlichen Täters wurden laut Frank insgesamt vier Kilo Sprengstoff in zahlreichen Sprengvorrichtungen sichergestellt. Dem mutmaßlichen Täter Stephan B. werde zweifacher Mord und versuchter Mord in neun Fällen vorgeworfen. Die Bundesanwaltschaft sieht in dem Angriff eine staatsgefährdende Tat. Ermittelt wird unter anderem wegen Mordes und Mordversuchs. Übernommen hat die oberste Anklagebehörde das Ermittlungsverfahren wegen des "spezifischen staatsgefährdenden Charakters der Tat und der besonderen Bedeutung des Falles".

Die Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen Einrichtungen wurden nach dem Vorfall in Halle verstärkt. Auch in Magdeburg haben Polizisten vor dem Haus der Synagogen-Gemeinde Position bezogen.

Der schwerbewaffnete Täter hatte am Mittwoch versucht, in die Synagoge einzudringen und dort unter Dutzenden Gläubigen ein Blutbad anzurichten. Der Versuch scheiterte, woraufhin er vor der Synagoge und danach in einem nahen Döner-Imbiss zwei Menschen erschossen und mindestens zwei weitere verletzte. Auf der Flucht wurde der Täter gefasst.

Nach der Tat tauchte auch ein Dokument im Internet auf, bei dem es sich nach Angaben einer Expertin um eine Erklärung des Angreifers zu handeln scheint. Das PDF-Dokument zeige Bilder von Waffen und enthalte einen Verweis auf das Live-Video, das von der Tat verbreitet worden sei, schrieb Rita Katz, Leiterin der auf die Beobachtung von Extremisten spezialisierten Site Intelligence Group, auf Twitter.

In dem Text wird laut Katz das Ziel genannt, "so viele Anti-Weiße zu töten wie möglich, vorzugsweise Juden". Das Dokument sei anscheinend am 1. Oktober angelegt worden und gebe Hinweise darauf, wie viel Planung und Vorbereitung der Täter in die Attacke gesteckt habe. Nach ersten Prüfungen werde es von den Ermittlern aber als "authentisch" bewertet. Unter anderem stimmten die in dem "Manifest" abgebildeten und vom Täter offenbar teils selbst gebauten Schusswaffen mit den tatsächlich bei dem Anschlag eingesetzten Waffen überein.

Katz bezog sich auch auf ein Bekennervideo, das der mutmaßliche Täter in sozialen Netzwerken hochgeladen hatte. Das Video dokumentiert den Ablauf der Angriffe in Halle aus Sicht des Attentäters. Die Aufnahmen stammen von einer Kamera, die am Helm des Schützen befestigt war. Das Video wurde nach Angaben der Streaming-Plattform Twitch von rund 2200 Menschen angesehen, bevor es dann nach 30 Minuten gelöscht wurde. Über den vor etwa zwei Monaten erstellten Account sei zuvor nur einmal etwas veröffentlicht worden.

Der Innenminister von Sachsen-Anhalt, Holger Stahlknecht (CDU), bestätigte am Donnertagnachmittag die Echtheit des vom Täter in Halle verbreiteten Videos. Die Polizei sei acht Minuten nach Eingang des Notrufs an der Synagoge gewesen, zu diesem Zeitpunkt sei der Täter bereits auf dem Weg zum Döner-Imbiss gewesen, wo er eine zweite Person erschossen habe, sagte Stahlknecht in Halle. Bei einem Schusswechsel mit der Polizei sei der Mann am Hals verletzt worden.

Eine noch höhere Opferzahl wurde möglicherweise von Defekten an mindestens einer Waffe des Täters verhindert. In dem angeblichen Tatvideo ist zu sehen, wie in mindestens zwei Fällen Ladehemmungen das Leben von Menschen zu retten scheinen. Der Täter setzte eine vermutlich im Selbstbau hergestellte Langwaffe, eine Pistole und Sprengsätze ein.

Der Präsident des Zentralrats der Juden erhob schwere Vorwürfe gegen die Polizei. "Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös", sagte Schuster. "Diese Fahrlässigkeit hat sich jetzt bitter gerächt." Nur glückliche Umstände hätten ein Massaker verhindert, sagte Schuster in Würzburg. "Die Brutalität des Angriffs übersteigt alles bisher Dagewesene der vergangenen Jahre und ist für alle Juden in Deutschland ein tiefer Schock."

Nach Einschätzung von Extremismusforscher Matthias Quent wollte der Täter offenkundig eine international verbreitete, rechte Internet-Subkultur erreichen. "Er spricht Englisch, und er greift Verschwörungstheorien auf, zum Beispiel über die angeblich zerstörerische Macht des Judentums. Er äußert sich auch abwertend über Feminismus", sagte Quent der Deutschen Presse-Agentur. Das seien Motive der weltweiten populistischen und radikalen Rechten. "Das Video folgt der Ästhetik eines Videospiels, auch durch die Ego-Shooter-Perspektive", sagte Quent.

In Halle legten Menschen noch am Mittwoch am Marktplatz Blumen und Kerzen nieder. Auch in anderen deutschen Städten versammelten sich Menschen in der Nähe von Synagogen und gedachten der Toten.

Auch der Hallesche FC ist nach dem Anschlag auf eine Synagoge in der Stadt in tiefer Trauer. "Der Verein ist auch direkt betroffen, weil ein Mitglied von uns unter den Toten ist", sagte HFC-Präsident Jens Rauschenbach am Donnerstag vor einem nicht öffentlichen Testspiel des Fußball-Drittligisten beim sächsischen Zweitligisten FC Erzgebirge Aue. "Wir stehen alle noch unter Schock", sagte Rauschenbach.

Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) geht im Falle der tödlichen Schüsse von Halle weiterhin von einem Einzeltäter aus. "Ein zweiter Beschuldigter ist uns nicht bekannt, wir gehen davon aus, dass es ein Einzeltäter war, immer im juristischen Sinne", sagte er am Donnerstag auf Nachfrage bei einer Pressekonferenz in Halle.

Sowohl Stahlknecht als auch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) wiesen darauf hin, dass nun ermittelt werde, ob Stephan B. in ein Umfeld oder Netzwerke eingebunden war. Wenn jemand in dem Umfang Sprengmittel besorgt und Waffen besessen habe, müsse man ausleuchten, mit wem der Mann Kontakt gehabt und wie er sich diese beschafft habe, sagte Seehofer. "Das muss man sauber unterscheiden von der Tatausführung."

Der mutmaßliche Täter sei "Stand jetzt" nicht nachrichtendienstlich oder staatsschutzmäßig in Erscheinung getreten. Es habe auch keine Ermittlungsverfahren gegen ihn gegeben, sagte Stahlknecht.

So erlebten Augenzeugen den Anschlag in Halle.

Der Text wird fortlaufend aktualisiert.