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30 Jahre Mauerfall Die DDR-Lüge der Menthol-Zigarette

In der Auseinandersetzung mit dem Westen zog die DDR-Propaganda alle Register. Das Kidnapping per Menthol-Zigarette ist legendär.

Von Steffen Honig 22.09.2019, 09:09

Magdeburg l Die Story, die das „Neue Deutschland“ am 21. September 1989 auf der Titelseite offerierte, hatte es in sich. „Ich habe erlebt, wie BRD-Bürger ,gemacht‘ werden“ stand da über einem Interview mit einem Mitropa-Koch namens Hartmut Ferworn.

Der damals 39-Jährige berichtete Merkwürdiges: Er sei am 11. September in Budapest während des Aufenthaltes mit dem „Corvina-Express“ der Reichsbahn, in dem er bediente, von dem Sachsen Jens Wunsch angeprochen worden. Im Verein mit einer Ungarin habe der ihn mittels einer Tasse Kaffee und einer Mentholzigarette betäubt. Ihm seien nach einigen Minuten die Sinne geschwunden, erzählte der Mitropa-Koch.

Wieder erwacht wäre er schließlich in der bundesdeutschen Botschaft in Wien. Für die gelungene Entführung habe sein sächsischer Begleiter dort von einem Kumpanen bündelweise D-Mark-Scheine bekommen. Ferworn berichtete, dass er den „kaltblütigen Menschenhändlern“ mit Hilfe der Wiener DDR-Botschaft entkommen und in die Heimat zurückgekehrt sei. Eine Selbstverständlichkeit für ihn als glücklich verheiratetes SED-Mitglied und Vater von drei Kindern.

Wegen der nicht durch Objektivität bestechenden DDR-Medien hielten das viele Leser zwischen Rostock und Riesa sofort für eine Ente. Misstrauisch wurde gefragt: Was ist da dran? Und: Kann man uns wirklich eine erfundene Räuberpistole auftischen? Man konnte: Die Mentholzigarette qualmte mitten in eine DDR hinein, die sich in einer existenziellen Krise befand. Verzweifelt versuchte die Führung von Staat und Partei, das Heft des Handelns wieder in die Hand zu bekommen. Der Aderlass von Zehntausenden DDR-Bürgern, die seit dem 11. September den inzwischen freien Weg über Ungarn zur Flucht in den Westen genutzt hatten, wirkte sich verheerend aus.

Der Legitimitätsverlust des vermeintlich stabilen Staates DDR nach innen wie nach außen war enorm. Außerdem fehlten ganz praktisch überall die Arbeitskräfte – in Krankenhäusern, Betrieben, Schulen. Die SED-Führung versuchte vergeblich, den anschwellenden Zug in Richtung Westen zu stoppen.

Im Gegenteil: Durch die eigene Sprachlosigkeit unterstützte sie die Massenflucht nach Kräften. Mit dem Budapester Entführungs-Abenteuer sollte publizistisch gegengehalten und die Flüchtlinge als Opfer krimineller westdeutscher Menschenhändler eingeordnet werden.

Wie es wirklich war, schilderte Ferworn in einer Reportage des Fernsehens der DDR im Januar 1990. Demnach hatte er sich sehr wohl von Budapest aus nach Österreich aufgemacht, sich aber dann in Wien zur Rückkehr nach Hause entschlossen.

Doch allein durch seinen Fluchtversuch war der Mitropa-Angestellte für die Staatssicherheit ein geeignetes Erpressungsopfer geworden. Durch Strafandrohung unter Druck gesetzt, stimmte der Koch letztlich der Zigaretten-Version zu. Das „Neue Deutschland“ setzte die Schmähung des Feindes auftragsgemäß um. Die Entführung per manipulierter Mentholzigarette war in der Welt, die Fälschung ließ sich nicht mehr revidieren. Umso mehr, als sie durch empörte Leserbriefe über die vermeintlichen unmenschlichen Praktiken seitens der Bundesrepublik unterfüttert worden war.

Das Zentralorgan der Partei versuchte sich später an einem Rückzieher in mehreren Etappen. Nachdem sich die Eltern des vorgeblichen Abwerbers über das kompromittierende Interview beschwert hatten, erschien am 3. November 1989 im „Neuen Deutschland“ ein Beitrag, der „eine nachhaltige kritische Reaktion bei unseren Lesern“ einräumt.

Weiter heißt es: „Die Redaktion erhielt zahlreiche Zuschriften, in denen die Darstellung bezweifelt wurde, weil der Fall nicht typisch für den Weggang zahlreicher DDR-Bürger sei. Wir müssen diese Kritik mit dem heutigen Erkenntnisstand akzeptieren und bedauern deshalb die Veröffentlichung.“

Zwei Monate später, am 5. Januar 1990, entschuldigte sich die Zeitung: Für das gefälschte Interview und außerdem für die „verordnete Kampagne“.

Der damalige ND-Chefredakteur Herbert Naumann schob die Schuld an der Sache später der Abteilung Agitation des SED-Zentralkomitees zu. Die Geschichte sei seiner Zeitung „aufgenötigt“ worden“.

Hartmut Ferworn, um den sich alles drehte, ist 2013 gestorben.

Mentholzigaretten sind übrigens von Mai 2020 an in Deutschland verboten. Weil damit gerade jungen Leuten der Einstieg in schädlichen Tabak­konsum erleichtert wird. Schuld sind die Aromen – auch wenn sie nicht betäuben.

Mehr unter www.Volksstimme.de/mauerfall.