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Inklusion in Sachsen-Anhalt Wie junge Menschen mit geistiger Behinderung ins Berufsleben starten

Für Menschen mit einer geistigen Behinderung endet der Berufsweg oft in einer Werkstatt. Eine Förderschule im Salzlandkreis versucht, ihre Schüler in Betrieben der Umgebung unterzubringen. Wie klappt das?

Von Robert Gruhne 21.06.2024, 08:29
Ive Bönisch ist Schüler der Katharinenschule in Schneidlingen und Praktikant in der Tischlerei Hosang in Wilsleben.
Ive Bönisch ist Schüler der Katharinenschule in Schneidlingen und Praktikant in der Tischlerei Hosang in Wilsleben. Foto: Robert Gruhne

Schneidlingen - Er schleift und schleift und schleift. Stundenlang kann der 18-jährige Ive Bönisch die Maschine übers Holz bewegen – ohne zu meckern oder die Lust zu verlieren. „Das machen nicht alle Praktikanten“, sagt eine Kollegin. Auch der Chef der Tischlerei Hosang im Aschersleber Ortsteil Wilsleben, Christoph Hosang, meint: „Er hat Interesse und ist sich für nichts zu schade.“

Zwei Jahre lang ging Ive jeden Mittwoch in den Handwerksbetrieb statt in den Unterricht. Er besucht die Katharinenschule in Schneidlingen – eine christliche Förderschule für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung. Der Berufsweg führt die Schulabgänger später oft in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung, die ihnen die Teilhabe am Arbeitsleben ermöglicht.

Der Weg endet aber meist auch dort. „Wir versuchen, den Gedanken zu durchbrechen. Menschen mit Behinderung können durchaus auf dem ersten Arbeitsmarkt ihren Platz finden“, meint Hendrik Fries, Geschäftsführer der Klusstiftung, zu der die Katharinenschule gehört.

Die Schüler starten in Schneidlingen in der zehnten Klasse mit der Berufsorientierung. In Zusammenarbeit mit den Pfeifferschen Stiftungen aus Magdeburg wird in Gesprächen geschaut: Wo liegen Stärken und Schwächen der Jugendlichen? Was sind ihre Interessen? Dann gehen die Mitarbeiter auf die Suche nach Betrieben in der Umgebung, wo die Schüler reinschnuppern können. Parallel trainieren sie Grundkompetenzen, die für den Berufsalltag elementar sind: Einen Busfahrplan lesen zum Beispiel oder Pünktlichkeit.

Auch interessant: Warum viele Arbeitgeber in Sachsen-Anhalt trotz Pflicht kaum Schwerbehinderte beschäftigen

Menschen mit Behinderung übernehmen Nischentätigkeiten

Ive Bönisch zeigte Interesse an der Holzarbeit. Der Kontakt zur nahen Tischlerei stand schnell. Hier kümmert sich der 18-Jährige um einfache Tätigkeiten. Neben dem Schleifen pinselt und putzt er zum Beispiel. „Die machen immer so eine Sauerei“, sagt er über seine Kollegen und grinst. Für sie ist es eine Erleichterung, dass Ive sich um die vielen kleinen und oft monotonen Aufgaben kümmert.

Seit 2020 läuft das Projekt an der Katharinenschule. Eine ehemalige Schülerin arbeitet jetzt beispielsweise in einem Blumengeschäft, ein anderer Schulabgänger in einer Druckerei. „Wir haben bisher acht Schüler, die normalerweise klassisch in die Werkstatt gegangen wären, in Betriebe der Umgebung gelenkt“, sagt Rainer Salzmann, Inklusionsleiter der Klusstiftung. Das Projekt stecke aber trotzdem noch in den Kinderschuhen.

Bisher sind die ehemaligen Schüler offiziell Beschäftigte der Werkstatt der Pfeifferschen Stiftungen, aber planmäßig nicht dort vor Ort. Vier Tage die Woche arbeiten sie stattdessen im Betrieb. Einen Tag kommen sie zum Theorieteil weiter in die Schule nach Schneidlingen. Gut zwei Jahre dauert dieser sogenannte Berufsbildungsbereich, den alle Werkstattgänger durchlaufen.

Für die Betriebe hat das den Vorteil, dass die soziale Absicherung über die Pfeifferschen Stiftungen läuft. „Bei uns fällt die Verwaltung weg“, sagt Arthur Taentzler. Er leitet einen landwirtschaftlichen Betrieb in Cochstedt. Hier arbeitet eine ehemalige Förderschülerin aus Schneidlingen und kümmert sich um die Pflege der Pferde.

Ab August kommt der 18-jährige Felix Müller dazu, der während seiner Schulzeit schon Praktikant auf dem Hof war. Er interessiert sich für Technik und Landwirtschaft. „Letzten Freitag durfte ich Rasenmähen“, erzählt der Schüler begeistert. Vielleicht könne er bald einmal mit aufs Feld, wünscht er sich. Er hat Freude daran, in dem kleinen Team mitzuarbeiten und sich nützlich zu machen. Und der Hof habe jemanden, der sich um „Nischentätigkeiten“ wie die Grünpflege kümmert und „immer eine dritte und vierte Hand, die mit anpackt“, sagt Chef Taentzler.

Unternehmen bei der Anstellung von Menschen mit Behinderung zurückhaltend

Bei den Firmen sieht der Landesbehindertenbeauftragte Christian Walbrach noch Potenzial: „Wir müssen an der Willkommenskultur in den Betrieben arbeiten.“ Gut zwei Drittel der Arbeitgeber in Sachsen-Anhalt beschäftigen keine Menschen mit Behinderung, obwohl sie dazu verpflichtet sind. Als Ziel nennt Walbrach, möglichst viele Menschen, egal welche Behinderung sie haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzubringen.

Als problematisch bewertet er, dass kaum jemandem der Übergang aus einer Werkstatt in den regulären Arbeitsmarkt gelingt. Die Übergangsquote liegt Walbrach zufolge knapp über null Prozent. „Wer sich einmal in dem Sondersystem befindet, hat es mit dem Übergang sehr schwer“, sagt er. Dass die Werkstätten wirtschaftlich arbeiten müssen, mache es nicht leichter, Leistungsträger gehen zu lassen. Dennoch: Walbrach beobachte einen Wandel in den Werkstätten. Verstärkt setzten diese nun auf Außenarbeitsplätze oder eigene Inklusionsbetriebe.

Die Pfeifferschen Stiftungen werten das Projekt in Schneidlingen als „vollen Erfolg“. Die Chance, dass die Schüler einmal ein reguläres Arbeitsverhältnis eingehen könnten, steige deutlich. Bisher ist das laut Rainer Salzmann, dem Inklusionsleiter der Klusstiftung, noch nicht gelungen. Er bezeichnet das als „Königsdisziplin“. Die Schule will das Projekt weiterführen. Erst kürzlich gab es das Berufswahl-Siegel des Landes Sachsen-Anhalt. Die Klusstiftung plant auch, einen eigenen Inklusionsbetrieb aufzubauen, in dem die Schulabgänger arbeiten können.

Der Weg in eine reguläre Arbeit ist für Förderschüler schwierig, weiß auch Kevin Kaiser, Geschäftsführer für Bildung bei der Handwerkskammer Magdeburg. Eine Ausbildung im Handwerk starten nur wenige: „Im Grunde bleibt es bei glücklichen Einzelfällen.“ Die Offenheit der Unternehmen sei zwar größer geworden. Dennoch scheuten viele den Aufwand der Inklusion. Die Betriebe hätten oft nicht die Zeit, sich mit den Herausforderungen der Menschen auseinanderzusetzen.

Letzter Schultag an der Katharinenschule in Schneidlingen

Am 20. Juni haben Felix und Ive von der Katharinenschule in Schneidlingen ihren letzten Schultag. Nicht nur für Felix geht es auf dem Hof weiter, auch Ive bleibt der Tischlerei erhalten. Chef Christoph Hosang will es probieren, den jungen Mann vier Tage die Woche im Betrieb einzusetzen. Das werde aber auch eine Herausforderung, meint er.

Der Aufwand für die Mitarbeiter, Aufgaben zu vergeben und zu erklären, sei hoch. „Man muss genau sagen, was man möchte, denn Ive macht genau das“, sagt Hosang. Für die Zukunft will er ihm beibringen, Aufgaben auch alleine zu sehen: „Dahin wollen wir ihn bekommen.“