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Richter Benndorf: "Wir haben Grenzen erreicht"

Verwaltungsgerichte müssen so viele Asylklagen bearbeiten wie nie. Oberverwaltungsgerichtspräsident Michael Benndorf fordert mehr Personal.

Von Alois Kösters 29.03.2017, 01:01

Aktuell dauert ein Asylklageverfahren durchschnittlich 9,7 Monate. Tausende Verfahren schieben Sie noch vor sich her. Dabei haben Sie schon 1994 in einem Interview in der Volksstimme angekündigt, die Wartezeiten auf ein Minimum zu verkürzen. Weit sind Sie ja nicht gekommen ...

Michael Benndorf: Aktuell haben wir eine Ausnahmesituation. Allein im vergangenen Jahr gab es eine Steigerung der Asylklagen um 60 Prozent. Wir sind damit auf einem Höchststand, den wir bisher noch nie hatten. Und wir rechnen mit einer Steigerung nochmal um 50 Prozent. Das betrifft übrigens alle Bundesländer.

Worum geht es bei diesen Klagen überhaupt?

Um die Anerkennung als politisch Verfolgter, das heißt als Asylberechtigter oder Flüchtling. Ein wichtiges Thema sind auch sogenannte „Aufstocker“. Das sind zum größten Teil Syrer. Sie haben bisher sogenannten subsidiären Schutz bekommen und können wegen der Lage in ihrem Heimatland nicht zurückgeschickt werden. Mit dem Asylpaket II wurde festgelegt, dass diejenigen, die diesen Schutzlevel haben, drei Jahre lang ihre Familie nicht nachholen dürfen. Und genau darum geht es den Klägern. Das sind Hunderte Verfahren, die sehr aufwendig sind. Weil wir die spezifische Situation im Herkunftsland genau herausfinden müssen. Eine Verhandlung kann da schon mal dreieinhalb Stunden dauern – alles mit Dolmetscher.

Aber das hätte doch alles schon vorher vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) geklärt werden müssen ...

Ich will das Bamf nicht schlechtreden, aber Sie wissen ja, unter welchem Druck diese Behörde steht. Unser Problem ist, dass oft in den Anhörungen nicht substanziell genug nachgefragt worden ist. Oder dass die Entscheidungen aus Bausteinen bestehend eher formalistisch getroffen wurden. Da müssen wir als Richter nachfragen.

Sie werden doch keine eigenen Ermittlungen anstellen?

Doch. Wir müssen überprüfen, ob das geschilderte Verfolgungsschicksal stimmt. Dazu hören wir die Kläger an und holen natürlich auch Auskünfte ein. Das müssen wir alles selber machen und können das Verfahren nicht zurückgeben. Wir müssen uns also auf spezielle Datenbanken und Auskünfte von Botschaften, Ärzten und Organisationen stützen. Unsere Richter sind deshalb sehr kompetent, was die betroffenen Länder angeht. Sie kennen sich aber auch gut mit gefälschten Tickets, Papieren oder Pässen aus. Da müssen wir in den Ländern auch häufig nochmal nachfragen und uns die Echtheit der Dokumente bestätigen lassen. Wenn das Bamf sagt, der Pass ist gefälscht, und der Fachanwalt des Klägers sagt etwas anderes, dann müssen wir der Sache auf den Grund gehen.

Was kostet denn so ein Verfahren?

Das ist pauschal schwer zu sagen. Allein der Dolmetscher für die Verhandlung kann mehrere Hundert Euro pro Tag kosten, die der Staat zu zahlen hat. Zur Kostenminimierung bündeln wir die Verfahren, so dass ein Dolmetscher an einem Sitzungstag mehrere Verhandlungen begleitet. Das geht aber nicht in jedem Fall. Es gibt seltene Sprachen und Dialekte, wie zum Beispiel Fula, das in Teilen von Guinea-Bissau gesprochen wird …

Was ein Verwaltungsrichter heute alles wissen muss...

Da staunen Sie. Aber es ist wirklich hochkompliziert. Im Anhörungsprotokoll des Bamf erklärt der Betroffene üblicherweise: „Ich habe alles verstanden.“ Wenn er dann bei uns angibt, dass der Dolmetscher tatsächlich gar kein Fula gesprochen hat, sondern irgendeinen anderen Dialekt oder eine andere Sprache, dann muss das gesamte Anhörungsverfahren von uns erneut durchgeführt werden. Die Verfolgungsschicksale müssen plausibel sein und dürfen nicht aus Bausteinen bestehen, die Schlepper den Betroffenen eingeredet haben. Das bekommt man in persönlichen Anhörungen am besten heraus.

Dann macht Ihnen das Bamf unnötige Arbeit?

Ja, aber das ist in der aktuellen Situation vielleicht unvermeidlich. Es gibt einen erheblichen Anteil an Entscheidungen, in denen wir nachermitteln müssen. Das ist derzeit vor allem bei den „Aufstockern“ so. Wir müssen in den Verfahren ermitteln, wer denn nun recht hat und ob tatsächlich Ansprüche bestehen. Das macht uns die Sache so schwer. Bei den Balkan-Verfahren, die uns in den vergangenen beiden Jahren beschäftigt haben, war das einfacher. Da wussten wir selber, dass es dort keine Verfolgung gibt. Aber nehmen wir zum Beispiel Afghanistan, da sieht es ganz anders aus. Die einen sehen Teile des Landes oder das ganze Land als gefährlich an, andere wieder nicht. Auch die persönlichen Verhältnisse der Betroffenen sind von uns zu berücksichtigen. Es gibt Kläger mit schwerwiegenden Erkrankungen, wo sich die Frage stellt, ob die Erkrankungen im Heimatland behandelbar sind. Das ist ein Bündel von Problemen, die ein Richter erst einmal erfassen und zuordnen muss. Es ist viel schwerer, als man am Stammtisch vielleicht denkt. So nach dem Motto: zurückschicken und gut.

Die meisten Klagen werden dann aber doch abgewiesen.

Das stimmt, außer bei Syrern. Aber selbst nach verlorener Klage werden viele nicht abgeschoben. Da arbeiten wir dann für das Archiv und fragen uns manchmal, warum betreiben wir eigentlich solch einen großen Aufwand.

Dann müssen Sie ausputzen, was die Politik nicht entschieden hat. Da ist man sich ja immer noch uneinig, was sicher oder nicht sicher ist ...

Ja, wir müssen uns das genau ansehen, wo es sicher ist und wo nicht. Wir müssen jeden Einzelfall individuell prüfen. Das ist unsere Aufgabe und darauf haben die Betroffenen auch einen Anspruch. Hinzu kommt, dass das Asylrecht durch den Einfluss des Europarechts immer komplexer wird. Und wir haben nicht nur die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu beachten, sondern müssen auch die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Blick behalten.

 

Das heißt, der Aktenberg wird weiter wachsen?

So ist es. Die Laufzeiten werden tendenziell länger. Das wird sich auch auf alle anderen Verfahren auswirken. Zum Beispiel, wenn es um Baugenehmigungen, Beamtenstreitigkeiten oder Schülertransporte geht. Wir haben die Grenze der Belastbarkeit erreicht. Aktuell besteht ein Personalmehrbedarf von 25 Richtern bei den Verwaltungsgerichten Halle und Magdeburg.

Wie viele Richter haben Sie denn?

In der ersten Instanz sind es 52 Richterinnen und Richter. Wir müssten die Richterzahl also um die Hälfte aufstocken. Dass wir die nicht alle bekommen, weiß ich natürlich auch.

Der Markt dürfte ja auch leergefegt sein?

Es gibt schon noch Juristen auf dem Markt. Wir haben allerdings sehr hohe Qualitätsansprüche, erwarten etwa Prädikatsexamina. Darunter können und wollen wir auch nicht gehen. Wir erwarten von unseren Richtern, dass sie gute Juristen sind und Sozialkompetenzen mitbringen. Die meisten Bewerber sind übrigens Frauen. Die Männer werden eher Anwälte.

Es dürfte auch vom Landeshaushalt her schwer werden, Richter zu bekommen. Der ist ja schon verabschiedet.

Wir wissen, dass alle nach mehr Personal rufen. Da ist die Polizei, da sind die Schulen, der Justizvollzug, die Forstbediensteten und so weiter. Das Land sagt natürlich, wir haben ein bestimmtes Budget und mehr gibt es nicht. Wir können dazu nur sagen, wenn über die Klagen der Asylbewerber ewig nicht entschieden wird, kostet das das Land auch jede Menge Geld. Auch deshalb sollte man bei der Justiz nicht sparen.

Hätten Sie nicht schon viel früher Alarm schlagen können?

Wir sind in eigener Sache vielleicht etwas zurückhaltend und nicht so kämpferisch. Unsere Verbände machen auch keine Demo mit Trillerpfeife vor dem Landtag. Leider ist es so, dass im Kabinett häufig der Innen-, Finanz- und vielleicht der Kultusminister den Vorzug haben. Die Justiz wirkt eher lästig, das ist mein Eindruck. Wir würden uns schon wünschen, dass die zuständige Ministerin mit Nachdruck unsere Interessen vertritt.

Ist das zu wenig geschehen?

Ja, das war schon so. Die Wertschätzung der Justiz ist nach meiner Meinung generell nicht hinreichend ausgeprägt. Wir sollen und müssen verständlich, schnell und richtig entscheiden. Dafür brauchen wir aber das nötige Personal.

Aber woher soll es denn zumindest auf die Schnelle kommen?

Eine Pool-Lösung könnte erst einmal helfen.

Was meinen Sie damit?

Jetzt haben wir vor allem das Problem in den Verwaltungsgerichten. Wir wissen aber nicht, ob das in drei Jahren immer noch so ist. Da könnte es anderswo ein Problem geben, zum Beispiel überlange Strafprozesse oder einen Stau bei den Finanz- oder Sozialgerichten. Mit einem Richter-Pool könnte man flexibler darauf reagieren.

Sie haben auch einen Brief an die Justizministerin geschrieben. Was steht da noch drin?

Dass wir keine Möglichkeit mehr sehen, uns gegenseitig auszuhelfen unter den Fachgerichtsbarkeiten, so dass nur die Lösung bleibt, die Lücke mit neuem Personal zu schließen.

In den 90er Jahren gab es ja eine ähnliche Situation, wie wurde da reagiert?

Die Zahl der Richter war geringer als heute. Ich frage mich, wie wir das damals geschafft haben. Da lag das Problem aber wiederum anders.

Waren die Fälle damals denn einfacher?

Sie waren anders. Wir hatten viele Kurden aus der Türkei und den Zerfall Jugoslawiens. Und sie waren insofern einfacher, als das Asylrecht seinerzeit noch nicht so europarechtlich überformt und dadurch leichter zu handhaben war. Und wir haben damals auch zusätzliches Personal erhalten. Jetzt ja übrigens auch, das will ich nicht unterschlagen. Wir haben 13 Richterinnen und Richter dazubekommen. Das reicht aber leider nicht aus, um den Mehrbedarf abzudecken.