1. Startseite
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Die Nacht der Schlaflosigkeit

Mankell-Drama Die Nacht der Schlaflosigkeit

„Zeit im Dunkeln“ von Henning Mankell erlebte in der Neuen Bühne Quedlinburg am Freitag seine Premiere. Ein eindrückliches Kammerspiel.

Von Hans Walter 21.02.2016, 23:01

Quedlinburg l Zwischen der Planung einer Inszenierung und der Premiere liegen Jahre. Wahrscheinlich ist Mankells Stück „Zeit im Dunkeln“ schon zu Zeiten der vormaligen Dramaturgen Sebastian Fust oder Johanna Jäger ins Blickfeld geraten. Da war aber vom Elend einer erdrückenden Massenflucht aus Syrien, Afghanistan und dem Irak auf der Balkanroute noch wenig zu sehen.

Aber zu erahnen. Der schwedische Krimiautor Henning Mankell (1948-2015) hatte ein geradezu prophetisches Gespür für Not und Tod, für Verzweiflung und Existenzangst von Flüchtlingen, denen Europa als gelobtes Land erscheint. Er schuf nicht nur die berühmte Figur des Kommissars Wallander, sondern auch 15 Dramen für seine lebenslangen Theaterprojekte in Schweden und Mocambique. Schon 2001 entstand „Zeit im Dunkeln“. 50 Flüchtlinge fliehen aus Afrika. Ihr Schiff geht unter. Es überleben nur vier: zwei der Schlepper mit Rettungswesten und ein Vater und seine Tochter. Um letztere dreht sich alles.

Die „Zeit im Dunkeln“ ist eine einzige Nacht der Schlaflosigkeit, der Nachtmahre, der Ängste und Aggressionen von Vater und Tochter. Die ersten zehn Minuten des Stücks sind wortloses Spiel. Der Zuschauer erlebt Folter und Kriegsterror, Maschinengewehre bellen. Dann das vermeintlich rettende Schiff. Doch alle gehen bei der Überfahrt übers Mittelmeer über Bord. Die Mutter stirbt; Vater und Tochter ringen ums Überleben. Irgendwer bringt sie in eine Wohnung.

Der Vater ist Gerold Ströher. Ein Tischler von Beruf. Ein Typ mit dunklem strähnigem Haar und einem langen Schnauzbart. Dessen Spitzen hängen mit größter Trostlosigkeit herunter. Dieser Mann kann nicht mehr aufrecht gehen. Er geht nicht mehr aus dem Haus. Das Geld wird knapp. Ein gebrochener Typ. Er wäscht sich nicht mehr. Er stinkt. Ströher spielt die resignative Haltung ungeheuer beeindruckend. Er putzt seine Schuhe. Sie sind das einzige, was ihm geblieben ist. Deren Glanz soll ihn aufwerten, „wenn sie uns die Pässe bringen“. Für Kanada oder Australien. Es bleibt eine unerfüllbare Hoffnung. Mona Luana Schneider ist die Tochter. Sie sieht die Dinge realistischer als ihr Vater.

Eine junge Frau in Veränderung. Sie erkundet ihre neue Welt, deren gesellschaftliche Realitäten. Sie hat das Kopftuch abgelegt und ihre langen Haare abgeschnitten. Sie opponiert gegen die Willenlosigkeit ihres Erzeugers, weil sie von Leben noch etwas erwartet. Mit aufrechter Haltung.

In dem Zwei-Personen-Stück passiert so gut wie nichts. Um der Kargheit zu entgehen und eine menschlich anrührende Komponente hinzuzufügen, fand Regisseur Jonathan Failla die stumme Rolle der ertrunkenen Mutter. Julia Siebenschuh gibt ihr allgegenwärtige Präsenz.

Sie begleitet Vater und Tochter wie ein Traumgeschehen. „Die Mutter ist tot, weil du ihren Arm losgelassen hast“, wirft die Tochter dem Vater vor. Sätze, die seinen Schmerz vergrößern. Die stumme Mutter vermittelt mit größter Zärtlichkeit zwischen den beiden Protagonisten. Manche Sätze des Dialogs werden simultan von Mutter und Tochter gesprochen. Dieses hoffnungslose „Es kommt niemand“ in das Ohr des Vaters. Er erträgt die Verlorenheit und Einsamkeit nicht mehr. Er will die Tochter vergewaltigen; die Nähe spüren. Die Bilder verschwimmen. Er gießt Benzin über ihr aus, zündelt mit Streichhölzchen. In auswegloser Verzweiflung.

Der amerikanische Schauspieler, Sprecher und Regisseur Failla inszenierte Henning Mankells Kammerspiel als zwei Stunden intensivstes Theater (Dramaturgie: Sebastian Clar). Die Münchner Szenografin Franziska Boos schuf die Ausstattung – vier bühnenhohe Regale mit 80 Kuben, die als Felsenlandschaft oder Stuhl, Tisch und Kochherd mitspielen und zum Schluss einen vollkommen geschlossenen, abgeschotteten Raum ergeben.

Lapidar wie das ganze Stück ist auch der letzte Satz der Tochter: „Jetzt trinken wir Tee, und dann gehen wir raus ...“ Dem Zuschauer obliegt es, sich mit brennendem Herzen die Schicksale der geflüchteten Menschen vorzustellen. Ihre Sehnsüchte. Ihren verzweifelten Griff nach Leben. Nach Überleben.

Dem Stück wäre weiteste Verbreitung in den Pegida- und AfD-Partei- und Wählergruppen zu wünschen.