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35 Jahre Grenzöffnung Osterwiecker Schüler in Doku über die neue Erinnerungskultur

Die Patenschaft des Fallstein-Gymnasiums über das Grenzdenkmal Wülperode findet Beachtung – auch in einem Film.

Von Mario Heinicke 28.10.2024, 18:00
Mähen zwischen Fahrzeugsperre aus Beton und Grenzzaun. Die Osterwiecker Schüler pflegen das Grenzdenkmal Wülperode regelmäßig.
Mähen zwischen Fahrzeugsperre aus Beton und Grenzzaun. Die Osterwiecker Schüler pflegen das Grenzdenkmal Wülperode regelmäßig. Foto: MDR/Denny Ebeling

Osterwieck. - Es ist eher selten, dass die Filmemacher der MDR-Reihe „Der Osten – Entdecke wo du lebst“ für eine Preview, also Vorabaufführung, zu den Protagonisten fahren. Dieses Jahr war es erst das zweite Mal, als am Donnerstagabend die Aula des Osterwiecker Fallstein-Gymnasiums bis auf den allerletzten Platz besetzt war für ein besonderes Thema: „Mauer, Bunker, Grünes Band – die neue Erinnerungskultur“.

Autor Sven Stephan war es auch persönlich ein besonderes Bedürfnis, diesen Film mit Episoden an mehreren Grenzorten in Sachsen-Anhalt drehen zu dürfen. So in Walbeck, Hötensleben, Stapelburg und eben Osterwieck, genau genommen Wülperode, wo die Gymnasiasten seit zehn Jahren ein 1990 nicht abgerissenes Stück Grenzanlage in ihre Grünpflege genommen haben.

Lang und lautstark war der Beifall, den die Zuschauer – Jugendliche wie Zeitzeugen – nach den 45 Filmminuten den Machern spendeten. Und den Protagonisten. Wie den Akteuren in Walbeck, die im Frühjahr einen einstigen Grenzwachturm denkmalgerecht wieder aufbauen ließen. Oder dem Grenzdenkmalverein Hötensleben, der seit 27 Jahren Jugendworkcamps veranstaltet für junge Leute aus aller Welt. Vor allem aus Ländern, wo es schwer bewachte Grenzen gibt. Dem Heimatverein Stapelburg, der nicht nur in seiner Heimatstube die Erinnerung an die Grenze bewahrt, sondern 30 Jahre nach dem Mauerfall eine alte Bunkeranlage wieder begehbar gemacht hatte.

Stapelburg steht indirekt ebenso wie das Fallstein-Gymnasium als Gegenreaktion auf Befürchtungen vor zehn Jahren, dass nach dem 25-jährigen, groß gefeierten Jubiläum Erinnerungen und Gedenken verblassen würden. Denn erst nach jenen Feierlichkeiten kam es auf Initiative des damals noch jungen Grenzerkreises Abbenrode zur Patenschaft des Fallstein-Gymnasiums über das Wülperode Grenzdenkmal, das wiederum formell auch erst seit 2016 Denkmalstatus besitzt.

Es ist ein einmaliges Schulprojekt in Deutschland, was die Osterwiecker aber auch erst jetzt erfahren haben. Dreimal im Jahr sind jeweils Zehntklässler mit ihren Geschichtslehrern vor Ort, um das Areal, auf dem zudem drei Informationstafeln stehen, zu mähen und aufzuräumen.

Sogar Landesfunkhausdirektor Tim Herden war mit in Osterwieck. Er schilderte, wie er in jungen Jahren mit seinen Eltern im Urlaub in Schierke war und in der Ferne den westdeutschen Wurmberg sah. „Ich habe damals nicht damit gerechnet, dass ich es mal erleben werde, einfach dort hinzugehen. Ich finde, diesen Glücksfall der Geschichte feiern wir manchmal zu wenig.“ Stattdessen würde zuletzt mehr darüber gesprochen, „was uns trennt“. Erinnerung, wie es das Fallstein-Gymnasium mit seiner Pflege der Grenzanlage betreibt, sei auch Mahnung.

Osterwiecks Bürgermeister Dirk Heinemann (SPD) ist im Film zu sehen, aufgewachsen in Wülperode. Er erzählt dort über den Zwist zwischen seinem Vater, einem Grenzsoldaten, und seinem Großvater über die Grenzanlagen. Filmaufnahmen zeigen Stapelburg in den 1970er Jahren. Der Mitschnitt einer NDR-Liveübertragung 1993 aus Hötensleben erinnert daran, wie tief die Einwohnerschaft darüber zerstritten war, ob ein Grenzabschnitt dort stehen bleiben oder weg soll. „Die Hötenslebener sind heute stolz auf ihr Denkmal“, antwortete Grenzdenkmalvereinschef René Müller auf eine Frage nach der Preview.

Was tief im Innern der Menschen damals vorging, ließ der Stapelburger Peter Röhling im Film erahnen. Das Publikum lachte zunächst ob seiner Schilderung, wie er mit seinem Schwager am Tag der Stapelburger Grenzöffnung mit einem Maulschlüssel aus dem Trabi-Bordwerkzeug die Muttern fürs erste Stück Trennwand zum Westen löste. Am Abend legte er in Stapelburg Musik auf bei einer Ost-West-Party, mit Deutschland-Flagge und Westfernsehen im Saal. „Da haben wir gedacht, wenn die das irgendwo zeigen, sind wir alle weg, werden wir verhaftet.“

Zur Preview war mit Johannes Beleitis auch der Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gekommen. Er zeigte sich überzeugt, dass sich die Schüler noch in 30 Jahren an ihr Grenzprojekt erinnern werden. Dass die Initiativen zur Erinnerung an die Grenze vielfach ehrenamtlich laufen, sieht er nicht als Problem. „Das Land, der Staat, das sind doch wir alle. Nur so kann es funktionieren.“ Seine Behörde, so unterstrich er, könne aber verschiedenste Vorhaben zur Aufarbeitung fördern.