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Stadtschreiber-Essay im Wortlaut Streitschrift über Magdeburg: Die Stadt im Konjunktiv

Magdeburgs Stadtschreiber Jonas-Philipp Dallmann hat zum Ende seiner Amtszeit 2024 eine Betrachtung über seine Zeit in Magdeburg geschrieben - und dabei mit Kritik nicht gespart.

Von Rainer Schweingel Aktualisiert: 24.11.2024, 12:55
Blick auf die Elbe in Magdeburg.
Blick auf die Elbe in Magdeburg. Klaus-Dietmar Gabbert/dpa-Zentra

Magdeburg - Stadtschreiber Jonas-Philipp Dallmann hat in einem Essay seine Zeit 2024 in Magdeburg Revue passieren lassen und eingeordnet. Sein Essay nennt er „Die Stadt im Konjunktiv“ - die Volksstimme veröffentlicht es hier im Wortlaut.

Prolog

Mit Canaletto fängt es an. Einen Canalettoblick nämlich erwartet, wer Stadtschreiber in Magdeburg geworden ist und von der balustradenumwehrten Terrasse des Turms im elften Stock hinunter in Richtung Osten blickt: Im Vordergrund die sich malerisch nach hinten staffelnden Riegel der Ernst-Reuter-Allee, darüber, monumental, der weiße Rasterklotz des neuen Blauen Bocks, konterkariert von der ockerfarbenen Schmalseite des stalinistischen Prachtbaus an der Ecke zum Alten Markt, dahinter dann die Türme der Johanniskirche, denen rechts die des Doms antworten, und dazwischen und darüber das Grün des Rotehornparks.

Man kann sich nicht sattsehen an diesem barock anmutenden Panorama, und doch ist es, wie jeder Besucher hier oben nachdenklich bestätigt, eine Chimäre, eine andere Stadt als die, die man vorfindet, wenn man das Haus im Erdgeschoss verlässt. Oben erzählt Magdeburg Geschichten, unten ist es mühsam, so Marlen Schachinger, meine Vorgängerin, der ich diese Beobachtung vorlege und die sie halb bestätigt. Städte bestehen aus Bildern und dürfen aus ihnen bestehen; eine kluge Planung sieht darauf, dass sie dort, wo sie am glänzendsten sind, von möglichst vielen gesehen werden. Den Canalettoblick in Dresden genießt man vom den Elbwiesen am Ufer gegenüber aus, und die Touristen versammeln sich dort in Scharen – meinen Blick sehen nur die Stadtschreiber, er ist Privileg, Zufall, ein Blick vom Zauberberg. Doch obwohl er etwas Unwirkliches hat, enthält er den Schlüssel zu der Stadt, die Magdeburg sein könnte, wenn sie den Mut hätte, die Schatten der Vergangenheit abzuwerfen.

Jonas-Philipp Dallmann war 2024 Stadtschreiber in Magdeburg
Jonas-Philipp Dallmann war 2024 Stadtschreiber in Magdeburg
Landeshauptstadt Magdeburg, Romy Buhr

Diese reichen zurück nicht nur in die, so höre ich es immer wieder, demütigenden Nachwendejahre mit ihrer Zerschlagung der Magdeburger Industrie und Arbeitslosigkeit, sondern haben zu tun vor allem mit den zwei Zerstörungen der Stadt, von denen die eine, die von 1631, längst etwas Mythisches gewonnen hat, während die andere, die von 1945, im kollektiven Gedächtnis nicht nur der Straßen und Plätze, sondern auch der Menschen auf eigenartige Weise präsent ist – mehr als in Berlin, das es durch einen Schock, nämlich die Öffnung der Mauer, geschafft hat, Nachkriegszeit und Kalten Krieg hinter sich zu lassen.

Auch Magdeburg hat bedeutende Anstrengungen unternommen, bunt, modern und grün zu werden. Der erste Eindruck von der Stadt ist ein fast glänzender; er übertrifft die Erwartungen, widerlegt die Klischees, versöhnt das Neue mit dem Alten. Wer vom Domplatz am herrlich verschrobenen Hundertwasserhaus vorbei zu den filigranen Giebeln des neogotischen Hauptpostamts blickt, sieht ein Magdeburg, wie es sein könnte; hier ist die Stadt ganz bei sich, öffnet die Schatzkiste ihrer alten Pracht. Geht man die Arthur-Ruppin-Straße allerdings bis zum Ende und blickt man dann den Breiten Weg hinunter, einst ein Prachtboulevard, wird man enttäuscht. Die Lücken wurden gefüllt, aber ohne Ehrgeiz, die Bäume stehen Spalier, aber ausgedünnt; elegante Geschäfte, Boutiquen, sucht man hier vergeblich.

Es könnte anders sein. Fragt man aber, warum es nicht so ist, landet man unweigerlich wieder beim Krieg, bei der großen Zerstörung, beim, wie ich es in Gedanken bald nenne, Magdeburger Trauma. Städte haben Seelen, wage ich zu behaupten, obwohl es eine leicht esoterische Idee sein mag. Begreift man sie als Metapher, kann sie helfen, einiges zu verstehen. Magdeburg, so meine These, ist traumatisiert. Von einem Traumatisierten darf man kein strotzendes Selbstbewusstsein erwarten, keine Souveränität.

Ich höre der Stadt zu, ihren Geräuschen, ihren Stimmen. Keck klingt das Klingeln der Straßenbahn zu mir herauf, rollend entladen sich die Gewitter über Cracau, verzweifelt klingen die Stimmen der Demonstranten, die Alle zusammen gegen den Faschismus skandieren, und beruhigend mischt sich das Glockenspiel vom Alten Markt darein. Am Sonntag wird die behaglich faule Stille zerrissen vom Balzgedröhn der Motorräder, und verwundert, fast kokettierend gurren die Tauben dazu, bedrängt von hüpfenden Krähen. Sie wirken unheimlich, wissen mehr, als ihnen lieb ist und lassen sich nur durch Entschlossenheit vertreiben. Sind es Geister der Vergangenheit? Wollen sie reden von etwas, wovon die Menschen lieber schweigen?

Geredet wird viel. Kommt Magdeburg zur Sprache, gibt die Stadt Auskunft über sich selbst, sei es aus altem oder jungem Mund, teilen allerdings nur selten Stolz sich mit, Behagen und Genügen an dem, was man ist und hat, sondern Zweifel, Ungewissheiten, Fragen.

Wer jung ist und eigentlich einen guten Job hier hat, will weg, denn in Magdeburg gibt es ja keine richtige Altstadt mit Kneipen und Bars, wo man abends flanieren kann. Wer an der Uni arbeitet und in Magdeburg wohnt, beklagt hinter vorgehaltener Hand, die Kollegen wohnten alle in Berlin und die Otto-von-Guericke-Universität sei ja eine Pendeluni. Mein Blick, der es wagt, Shoppingmalls mit langen überflüssigen Wegen und Kunstlicht im Keller zu kritisieren, sei, so höre ich, ein typisch Berliner Blick, den man hier schon kenne.

Die Stadt, erfahre ich, sei zerstört – dass sie wieder aufgebaut wurde, fällt unter den Tisch, denn der Wiederaufbau war irgendwie ein falscher. Ich schätze den auftrumpfenden Reiz der stalinistischen Bauten, ihre barocke Zuckerbäckerei? Schlimm, denn es sind Kulissen der Gewalt, Orte des Aufmarschs. Ich wage es bedenken zu geben, die neue Strombrücke, unglaublich teuer und nur mäßig befahren, degradiere die schöne alte Zollbrücke neben sich zum Spielzeug?

Bestimmt habe ich dieses wichtige Infrastrukturprojekt einfach nicht verstanden. Ich bezweifle, dass Albinmüllers herrliches Pferdetor so einsturzgefährdet ist, wie Experten es behaupten? Will ich die Verantwortung übernehmen, wenn es über unschuldigen Passanten zusammenbricht?

So geht es immer weiter. Magdeburg rechtfertigt sich, entschuldigt sich, klagt sich an, bekommt vieles in den falschen Hals. Die Stadt, so denke ich in einer Mischung aus Verwunderung und Überraschung, hat einen Minderwertigkeitskomplex. Sie ist unsicher, kennt ihren eigenen Wert nicht und macht es sich viel zu schwer. Unendlich hat sie sich angestrengt, aufzuholen, alles richtig zu machen, sich gut zu verwalten und die Wunden des Kriegs zu schließen. Überall springen Brunnen, drehen sich bronzene Leiber, sind die Brachen begrünt mit englischem Rasen.

In den Läden wird man freundlich bedient, die Sauberkeit der Straßen übertrifft die von Berlin, die Straßenbahnen fahren pünktlich. Magdeburg funktioniert wie am Schnürchen – jedenfalls verglichen mit der Metropole des Schienenersatzverkehrs. Man kann, nein, man könnte, man sollte hier leben, wenn, ja wenn … eine Stadt im Konjunktiv.

Nun sind, was da beklagt wird, worunter Magdeburg zu leiden erklärt, nicht nur Hypochondrien. Der seelische Zustand einer Stadt kann von ihrem physischen nicht getrennt werden; eins ist Ausdruck des anderen. Bald sehe ich unter der glänzenden Oberfläche die Narben, die Verwundungen. Wo einst Kirchen standen, erinnern nur noch wiederaufgebaute Tore, Bronzemodelle an sie. Wer im Katharinenturm einkaufen geht, blickt auf riesige Schwarzweißfotos des Breiten Wegs, die beredt davon sprechen, wie schön er einst war. Glaubt man, die alte Stadt gefunden zu haben, weht einen ihre Atmosphäre an, etwa am Alten Markt, ist es ein paar Meter weiter schon wieder vorbei damit.

Magdeburg fängt an und hört auf innerhalb eines Spaziergangs; es ist nicht leicht, in der Stadt zu flanieren. Am Hasselbachplatz, im Gründerzeitviertel erinnert sie an Kreuzberg oder Charlottenburg, doch spätestens nördlich des Alten Marktes beginnt die Zone der Ödnis, der Zeilen und Platten, zwischen denen sich die Schritte verlieren. Jetzt blickt der Flaneur sich nur noch suchend um nach der nächsten Haltestelle.

Doch eine Aufzählung der Symptome, der Defizite, führt nicht weiter. Es gilt, sich auf das zu besinnen, was schon ist. Bilder zu entwickeln und zu entwerfen, die in die Zukunft deuten. Auf der Terrasse des Turms fällt es leicht; hier fallen die Bilder mir zu mit dem Hüpfen der Krähen.

1. Die Öffnung zur Elbe

Was da ist, ist vor allem die vorzügliche Lage, die Topographie. Eine Stadt, die an gleich zwei Flüssen liegt, der Alten und der Neuen Elbe, und die in ihrer Mitte einen herrlichen Landschaftspark besitzt, ist privilegiert, ja bevorrechtigt. Eigenartigerweise macht sie gerade davon viel zu wenig Gebrauch. Es genügt, sich zu vergegenwärtigen, was die kunstsinnige Rivalin Dresden oder was rheinische Städte wie Köln oder Düsseldorf aus ihrer Lage am Wasser machen, um zu begreifen, wie weit Magdeburg hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Dass die Stadt sich, wie fast jeder Neuankömmling es empfindet, von der Elbe abwendet, sie fast zu ignorieren scheint, mag historische Gründe haben, aber die Zeit der Festungsstadt ist vorbei. Stolz thront der Dom über dem Fluss, aber vom Domplatz aus ist er nicht einmal zu sehen, führen nicht breite Treppen, sondern nur Schleichwege zu ihm hinunter. Kilometerweise ist das Ufer, eigentlich eine Vorzugslage, unbebaut, besetzt nur mit vagem Grün, mit vorstädtisch anmutenden Appartementhäusern, mit ephemeren Plattenbauten oder irgendwelchen Häuschen. Und wie um sich noch weiter vom Wasser abzugrenzen, teilt eine öde Durchgangsstraße die Elbe von der Stadt, euphemistisch als Schleinufer bezeichnet. Sehnsüchtig geht der Blick vom Fürstenwall, Magdeburgs Brühlscher Terrasse, hinüber nach Rotehorn, aber gerade dort, wo der Flaneur eine Brücke dorthin erwartet, am Dom, gibt es sie einfach nicht – nur einen Stummel, der hilflos in der Luft endet.

Gewiss, es ist einiges passiert, zumindest ein gepflegter Fußweg führt das Wasser entlang bis nach Buckau, aber die große Promenade die Elbe entlang, baumbestanden, eingefasst von städtischen Fassaden und besetzt mit Cafés, erwartet der Besucher vergeblich: Sie existiert einfach nicht. Sie zu schaffen, wäre alles andere als Hexenwerk, doch würde sie von Stadtplanern etwas verlangen, was diese nur höchst ungern zu Papier bringen, nämlich geschlossene Blöcke, klare Kanten, sauber eingefasste Straßen. Derlei ist nun einmal kein moderner Städtebau, sondern Nostalgie und Revisionismus. Und eine bestehende und befahrene Straße zu opfern, ruft Protest aus dem anderen politischen Lager hervor: Das geht ja nicht, unser Schleinufer ist unverzichtbar, die Stadt geht unter ohne diese Querverbindung.

Nun, sie ginge nicht unter. Man sperre diese Straße nur einmal einen Monat unter dem Vorwand der Baustelle, und Magdeburg wird ohne sie zurechtkommen, so wie es, anderen europäischen Städten folgend, in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren auf den Autoverkehr in der City verzichten wird. Es bleibt das Problem der Fassaden; man soll es nicht unterschätzen. Die Architekten können keine Fassaden mehr bauen, jedenfalls keine städtischen. Man muss dies endlich akzeptieren und von ihnen nicht verlangen, was sie verlernt haben. Zum Glück halten die Bauunterlagen des Stadtarchivs genug gelungene Fassaden bereit, die zerstört worden sind, und wenn unsere Zeit etwas kann, dann Kopieren.

2. Die Wiedergewinnung des Breiten Wegs

Die Identität einer Stadt und ihrer Bürger speist sich aus dem, was man ihre Wahrzeichen nennt – der Begriff deutet an, worum es geht: Eine Stadt existiert, sie ist wahr; sie ist nicht nur eine Behauptung. Ein Wahrzeichen beglaubigt nicht nur sich selbst, sondern auch, wofür es steht, nämlich das Antlitz einer Stadt, ihre Physiognomie, ihre Identität. Wird es beschädigt oder zerstört, wird mit ihm auch die städtische Identität, ihr Selbst, verletzt.

Dies ist der tiefere Grund, warum Städte sich – manchmal nach jahrzehntelangem Zögern – entschließen, zerstörte Wahrzeichen wieder aufzubauen, oft sogar gegen den Rat der Denkmalpfleger oder Architekten, die derlei gern eifersüchtig mit der Vokabel Disneyland herabwürdigen. Dresden hat auf diese Weise die Frauenkirche und den Neumarkt zurückgewonnen, Berlin das Schloss und den Schlüterhof in Gestalt des Humboldtforums, Warschau und Danzig ihre Innenstädte.

Magdeburg kann und muss den Breiten Weg zurückgewinnen und wird es tun, um zu sich selbst zurückzufinden. In diesem städtischen Raum konzentrierte sich einst der Ehrgeiz, der Kunstsinn, der Stolz seines Bürgertums. Die technischen Probleme sind lösbar und werden im digitalen Zeitalter immer weniger herausfordernd, Stichworte: Fotogrammmetrie, 3-D-Druck.

Was gelungen ist und Teil der neuen Identität der Stadt, also Hundertwasserhaus und Nord/LB-Domviertel von Bolles & Wilson, bleibt selbstverständlich erhalten. Der Wiederaufbau des Breiten Wegs wird als Traditionsinsel ausstrahlen auf die übrige Stadt und die Wiedergewinnung städtischer Räume inspirieren. Dazu wird es gehören, weiter Blöcke zu schließen, den alten Stadtgrundriss zu rekonstruieren und die Stadt entschlossen nachzuverdichten.

Das sich Verirren auf Hinterhöfen, Parkplätzen und Stadtbrachen muss ein Ende haben. Eine Stadt, die zulässt, dass man ihr ständig hinter die Kulissen schaut, die Privates und Öffentliches nicht trennt, hält nicht auf sich.

All dies wird viel Geld kosten, aber es wird die Identität der Stadt wandeln, indem es Bilder schafft. Ihre Anziehung wird so groß sein, dass die Stadt sich der neu Hinzuziehenden am Ende kaum mehr zu erwehren weiß. Menschen leben von Bildern. Bilder lassen sie Entscheidungen treffen. Bilder ziehen sie an. Für Bilder setzen sie sich ins Flugzeug und fliegen um den halben Globus. Der Umkehrschluss lautet: Wer Menschen anziehen will, als Bürger, als Touristen, als Steuerzahler, muss Anblicke schaffen, und zwar möglichst vollkommene.

3. Das Stadtklima: keine Frage des Geschmacks

Magdeburg ignoriert den Klimawandel – im engeren und im übertragenen Sinne. Wer das Thema in der Stadt anschneidet, erntet verdrehte Augen und Achselzucken: Wir hier haben damit nichts zu tun, das ist Berlin, das ist die Ampel, das ist Klimagedöns.

Leider ist es so einfach nicht. Die Hitzesommer werden auch Magdeburg zusetzen und es nach ersten Provisorien – Hitzeschutzpläne – unumgänglich machen, die Stadt an das sich unumkehrbar wandelnde Klima anzupassen. Kilometerlange Straßenschluchten ohne Baum und Strauch wie der nördliche Otto-von-Guericke-Ring müssen sich verwandeln in baumbestandene Alleen mit möglichst wenig versiegelter Fläche. Die Innenstadt muss und wird autofrei werden; das minutenlange Herumstehen an schlecht geschalteten Ampeln und das Stolpern über Poller, Barrieren und Bordsteine muss aufhören. Die versiegelten und als Parkplätze missbrauchten Höfe werden Parks und Gärten werden; Flachdächer gilt es zu begrünen, so wie das Hundertwasserhaus es heute schon vormacht.

Die Energiewende, unumkehrbar, da längst einhergehend mit einem Kulturwandel, einem Abschied von der Kraft der Verbrennung, des Feuers, darf nicht als Zumutung begriffen werden, sondern als Chance. Solarzellen auf den Dächern könnten, wie es frühe bauökologische Utopien schon vorzeichneten, Kunstwerke sein, Plastiken, so wie die Brunnen, die elegant der Verbesserung des Stadtklimas dienen, es heute schon sind, und auch weitere Wasserflächen in der Stadt, die das Mikroklima durch Verdunstung abkühlen und das Regenwasser aufnehmen, könnten ein gestalterisches Mittel sein, um die Aufenthaltsqualität des öffentlichen Raums zu verbessern.

Klimawandel ist aber nicht nur eine physische, sondern auch eine seelische Kategorie. Die Angst, das Misstrauen, die Selbstunterschätzung der Gegenwart können und werden schwinden, wenn die Stadt die Gegenwart und ihre Anforderungen nicht verdrängt, sondern sich ihnen kreativ und offen stellt. Dann auch kann und wird das, was heute als Spaltung beklagt und gefürchtet wird, als Flucht an die politischen Ränder, einem neuen Miteinander weichen, einer gemeinsamen Eroberung der Zukunft.

4. Kunst und Kultur der DDR

Magdeburg verdrängt, versteckt einen wertvollen Teil seines kulturellen Erbes, nämlich die Kunst der DDR. Der Tourist, der mit einem älteren DuMont-Reiseführer das Museum zum Kloster Unserer Lieben Frau betritt und erwartet, dort die berühmte Sammlung der Kleinplastik der DDR zu finden, wird enttäuscht: Sie ist verschwunden, verräumt, vermutlich im Depot. Was er in den schönen großen Räumen zu Gesicht bekommt, ist Gegenwartskunst auf mittlerem Niveau, sichtbar mit den großen Museen in Hamburg oder Berlin wetteifernd.

Doch dieses Rennen kann Magdeburg nicht gewinnen. Was ein echtes Alleinstellungsmerkmal wäre, um Marketingdeutsch zu bemühen, wäre die DDR-Kunst. Die Neue Nationalgalerie in Berlin stellt längst Werner Tübke, Bernhard Heisig und Wolfgang Mattheuer neben Rebecca Horn, Mark Rothko und Frank Stella aus, hat sie in den Kanon der Kunstgeschichte integriert.

Magdeburg muss es erst wieder wagen – vielleicht sogar im Kunsthistorischen Museum, dessen zeitliche Grenze heute ohne Not im Jugendstil endet. Keine einziges Gemälde eines DDR-Malers ist dort zu finden.

5. Der Arbeit gedenken

Nach dem Ende der Schwerindustrie und der Kohleförderung hat das Ruhrgebiet einen Strukturwandel vollzogen und Orte wie die Völklinger Hütte zum UNESCO-Weltkulturerbe gemacht, ein von Kunst und Kultur überformter Gedenkort, der die industrielle Vergangenheit bewahrt und an die Geschichte der Arbeit erinnert. Magdeburgs Lost Places, Orte wie die Diamantbrauerei, das Reichsbahnausbesserungswerk oder die Maschinenfabrik Buckau müssen bewahrt, touristisch erschlossen und zugänglich gemacht werden, ohne ihren fragmentarischen Charakter zu zerstören.

Es sind Mahnmale mit einer fast spirituellen Ausstrahlung, deren Würde und Monumentalität weder eine Generalsanierung verträgt noch eine Zwischennutzung mit Kart-Bahnen. Die Stadt besitzt mit ihnen einen Schatz, der nicht verändert, sondern nur erschlossen werden muss; entsprechende Vorbilder könnte nicht nur das Ruhrgebiet liefern, sondern auch innovative Projekte wie der Naturpark Südgelände in Berlin.

Wenn Magdeburg diese Orte, die nicht nur für den Verlust, sondern auch den Wert der verlorenen Arbeit stehen, nicht weiter verdrängt und zum Sanierungsfall erklärt, sondern zurückholt in sein kulturelles Bewusstsein, wird die Stadt ein Stück weit zu sich selbst zurückfinden. Für diese sensible Aufgabe sollten nur Architekten herangezogen werden, die in der Haltung eines David Chipperfield nicht sanieren oder verbessern, sondern erhalten und herausarbeiten.

Wer sich das Ergebnis noch nicht vorstellen kann, möge daran denken, wie Großbritannien mit seinen Klosterruinen umgeht: Sie werden gesichert, begrünt und stehen still und erhaben auf grüner Wiese. Man picknickt zwischen den Abbeys und käme nie auf die Idee, ihre Würde durch krude Nachnutzungen zu beeinträchtigen.

6. Das Pferdetor

Als bedeutendes Kunstwerk zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit könnte Albinmüllers Pferdetor neben Dom und Lost places zum Wahrzeichen der Stadt werden – wenn man es nicht nur als Baudenkmal, sondern als singuläres Kunstwerk ansieht und entsprechend behandelt.

Unter dem Druck seiner vermeintlichen Baufälligkeit, die es erst noch einmal gründlich zu prüfen gälte, hat der Stadtrat in Gestalt einer kleinen Lösung seinen Abriss, seine Zerstörung beschlossen. Zwar soll es „wiederaufgebaut“ werden, aber mit modernen Ziegelsteinen im falschen Format, um Geld zu sparen. Übertragen auf Berlin wäre dies so, als stellte jemand die Baufälligkeit des Brandenburger Tors fest und der Senat entschlösse sich, es schnell abzureißen und in Beton wiederaufzubauen. Wäre dieses Tor noch ein Wahrzeichen? Könnte es noch stehen für die Geschichte der Stadt, ihren Aufbruchswillen, ihre Identität?

Magdeburgs Pferdetor muss denkmalpflegerisch saniert werden, und zwar auf archäologischem Niveau, unter größtmöglicher Erhaltung seiner Substanz und unter Heranziehung einschlägiger Fördermittel. In Bezug auf das nahende hundertjährige Jubiläum der Theaterausstellung 2027 bietet es sich sogar an, damit zu warten, denn jeder Zeitdruck wäre hier schädlich. Eine Lösung, die einen Schutz des Baudenkmals und seiner Besucher garantieren würde, wäre eine temporäre Einfassung des Tors mit einem Wasserbecken, sodass es auf einer Insel steht. Sich im Wasser zu spiegeln, würde seinen Reiz sogar erhöhen und die Lage am Wasser, an der Elbe, betonen.

7. Der Wissenschaftshafen

Mit der Idee des Wissenschaftshafens auf dem Gelände des ehemaligen Handelshafens wagt Magdeburg einen mutigen Schritt in Richtung Zukunft und erweckt einen faszinierenden Ort zu neuem Leben – allerdings ist er bislang, trotz erster Neubauten des Fraunhofer Instituts (Elbfabrik) und trotz des Umbaus einiger alter Speicher zu Wohngebäuden, ein Torso, ein Versprechen.

Wer heute vom Ende des fast einen Kilometer langen Wasserbeckens nach Norden blickt, sieht eine leere Bühne, ganz zu schweigen davon, dass der Charles-de-Gaulle-Platz davor zerstückelt ist durch Hecken und Parkplätze und dass das Gelände kein repräsentatives Tor hat, das es mit der Stadt verbinden würde.

Die noch fast leere Bühne des Wissenschaftshafens sollte mit innovativer moderner Architektur besetzt werden, mit Gebäuden, die leben und agieren. In einer von dem Ort inspirierten Erzählung lasse ich Bruno Taut, Magdeburger Stadtbaurat 1921-23, einen Traum träumen, der in Bilder fasst, welches Potential dieser Ort haben könnte: „Geträumt, gesehen: eine Architektur der Kräne, der Türme, der Rüssel, fast in der Manier der Russen, aber nicht gitterartig durchbrochen, sondern gepanzert, geschuppt, pastellfarben.

Die Gebäude, beweglich wie Tiere, senken ihre Häupter in ein länglich gestrecktes Wasser. Gemessene Bewegungen, kein Kreischen, Stille. Menschlein führen sie, sitzen in gläsernen Kapseln. Dem Hoch antwortet ein Nieder, dem Schnell ein Langsam, alles wie in einem Tanz, einem Sprechen mit architektonischer Gebärde.“

8. Eine Zweite Magdeburger Moderne

Bruno Taut träumte schon vor hundert Jahren von einer Verwandlung der angestaubten Kunstgewerbeschule in eine zweites Bauhaus. Doch selbst die Fürsprache seines berühmten Freundes Walter Gropius half ihm nicht: Die örtlichen Widerstände gegen eine Reform waren einfach zu groß, die konservativen Magdeburger Professoren hatten keine Lust auf die Moderne. Der Kunstgewerbeschule hat es am Ende nicht genutzt: Sie existiert heute nicht mehr.

Was aber noch existiert, sind ihre vom Forum für Gestaltung gut verwalteten und gepflegten Räume. Magdeburg könnte sein naturwissenschaftlich-technisch geprägtes universitäres Bildungsangebot erweitern und ergänzen durch eine neue Kunstuniversität, ein zweites Bauhaus am alten Ort. So wie schon einmal vor hundert Jahren könnten von einer Zweiten Magdeburger Moderne künstlerische und gesellschaftliche Impulse ausgehen in Richtung Stadt und über sie hinaus. Zum Thema, zum Programm des neuen Bauhauses könnte eine Versöhnung zwischen Vergangenheit und Gegenwart werden.

Heute kann es nicht mehr darum gehen, gegen das Alte zu polemisieren, es zu zerstören, sondern das Neue zu erobern und zugleich das Alte zurückzugewinnen als seine Wurzel und Bedingung. Eine Zweite Magdeburger Moderne könnte nicht nur die Fehler der ersten Moderne meiden – Geschichtsvergessenheit, Hybris, Missbrauch der Natur – sondern sich auch zu Werten wie Nachhaltigkeit und Geschichte bekennen und damit die Gegenwart für die Zukunft öffnen.

Epilog

Am Anfang meiner Zeit hier dachte ich, die Stadt müsse mir begegnen in Form einer Gestalt, der Magdeburgerin. Ich suchte und sah sie an Straßenbahnhaltestellen, im Rotehornpark auf dem Fahrrad, in der Hermann-Beims-Siedlung auf einem Balkon. Doch all diese Gesichte waren nur Annäherungen, Irrtümer, Chimären.

Magdeburg sitzt, so sehe ich es jetzt, leicht abseits im Tübke-Kostüm, kräftig, nicht ernsthaft verwundet, nur geschunden. Sie will aufstehen und wandeln. Ihr Blick ist zutraulich, aber selbstbewusst. Sie hat auf mich gewartet, ohne mich zu brauchen; ich komme ihr nur unter, komme ihr gerade recht. An meiner Hand verlässt sie den Ruhestuhl. Ihre Augen sind schwarz und fern. Sie schürzt die Elbe, zwinkert mit dem Dom, rasselt mit der Pracht ihrer Kirchen. Längst ist sie da, suchen muss man sie nicht. Ihr Wunder ist die Dauer hinter der Zeit. Canaletto braucht sie nicht, sie lächelt über ihn wie ein Kompliment. Sie lässt sich nichts sagen, sie sagt es selbst. Man muss ihr nur zuhören.