Knochenmark-Spendenaktionen Machen Aufrufe zur Stammzellenspende wirklich Sinn? Ein Professor gibt Antworten
Prof. Marcell Heim, 23 Jahre lang Chef des Uni-Instituts für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie, über Sinn oder Unsinn von Aufrufen zu Stammzellenspenden.

Magdeburg - Über Sinn oder Unsinn von Aufrufen zu Stammzellenspenden hat Volksstimme Reporter Bernd Kaufholz mit Prof. Marcell Heim gesprochen.
Volksstimme: Immer häufiger wenden sich Betroffene oder deren Angehörige mit der Bitte an die Öffentlichkeit, dass sich Stammzellenspender für einen Leukämiekranken melden sollen. Aus Ihrer Sicht ein probates Mittel?
Marcell Heim: Unbestritten, damit kann man Menschen aktivieren, Stammzellenspender zu werden. Also sich typisieren zu lassen, um so in der rund 30 Millionen Namen potenzieller Spender umfassenden Weltdatei erfasst zu werden.
Da klingt ein Aber an ...
Richtig. Leider ist es bei Aufrufen zunehmend so, dass im Falle der entsprechenden Diagnose eines Erkrankten und der Aussage des Arztes: „Da müssen wir wahrscheinlich Stammzellen transplantieren“, die Leute losrennen und dazu aufrufen, sich genau für diesen Patienten typisieren zu lassen. Sozusagen an die Moral kratzen, sich genau für diesen Einzelfall zur Verfügung zu stellen.
Was ist daran auszusetzen?
Es passiert dann wie bei einer groß aufgemachten Typisierungsaktion für ein Kind im nördlichen Sachsen-Anhalt, dass wir die Familie und deren Helfer und Helfershelfern eindringlich bitten mussten, dieser „Öffentlichkeitsfahndung“ ein Ende zu bereiten, weil schon aus mehreren anderen Dateien in Europa verträgliche Stammzellenspender gefunden und gemeldet worden waren. Ohnehin wird durch personalisierte Aktionen fast nie ein Knochenmark- oder Stammzellenspender für den betroffenen Patienten gefunden, da ja schon in Deutschland fast 10 Millionen und zusätzlich weltweit mehr als 20 Millionen typisierte Spender zur Verfügung stehen.
Also sind solche gezielten Spenderaufrufe sinnlos?
Das will ich so nicht sagen. Indirekt können solcherart Spenden doch erfolgreich sein. Weil es öffentliche, personenbezogenen Aufrufe weltweit gibt und alle Typisierungen in der weltweiten Kartei mit zurzeit rund 30 Millionen Gewebemerkmalen für die Spendersuche frei zugänglich sind, kommt eine dieser Typisierungen später anderen Kranken zugute. Das haben wir selbst erlebt. Wir haben für einen Feuerwehrmann in Pouch bei Bitterfeld einen Spender gesucht, aber keinen gefunden. Ein halbes Jahr später tauchte in der Datei der USA ein passender Spender auf, der durch eine gezielte Öffentlichkeitsaktion typisiert worden war.
Noch einmal zurück zu Vereinen, die sich sicherlich gut gemeint dafür einsetzen, dass sich Menschen in konkreten Fällen typisieren lassen. Das ist doch eine gute Sache, oder?
Solange ein Verein bei der Stammzellspenderwerbung, die ja auch sehr hohe Typisierungskosten beinhaltet, für die dazu notwendigen Geldspenden eine dafür entsprechende Vereinssatzung hat und ein dafür zulässiges Vereinskonto verwendet, wäre das sogar begrüßenswert. Aber es dürfen natürlich auch keine fragwürdigen Behauptungen veröffentlich werden, wie jüngst, als damit geworben wurde, dass man bei den Spender-Aktionen bisher schon für vier Kinder einen verträglichen Spender gefunden hätte. Da wir in Kooperation diese Aktionsblutproben im Labor haben typisieren lassen, wissen wir natürlich definitiv, dass zumindest für drei dieser Kinder keiner dieser potenziellen Spender aus diesen Aktionen vermittelt worden ist, sondern schon in den weltweiten Dateien zur Verfügung stand.
Nico - ein tragischer Fall
Doch ganz ohne Öffentlichkeitsarbeit scheint es ja doch nicht zu gehen. Schauen wir doch nur auf den Fall des 14 Jahre alten Magdeburgers Nico zurück, für den 1995 Knochenmarkspender gesucht und 21 000 Menschen typisiert wurden.
Es war sowohl die erste öffentliche Suche in den neuen Bundesländern nach einem Spender, als auch ein ausgesprochen tragischer Fall. Die Suche in den Registern mit potenziellen Spendern blieb erfolglos. Es gab weltweit keinen genetischen Zwilling, der Nico eine neue Lebenschance hätte geben können. Ich habe damals Nico und seiner Mutter gesagt: „Die Chancen, einen passenden Spender zu finden ist auch bei der Typisierung von mehreren 1000 Spendern zwar größer als null, aber leider sehr gering. Jedoch helft ihr mit beim Neu-Aufbau der ersten Knochenmarkspenderdatei Sachsen-Anhalts. Damit auch die Bewohner der neuen Bundesländer typisiert werden und deren Gewebemerkmale für Leukä-miepatienten weltweit zur Verfügung stehen. Vor 1990 gab es in der DDR keine international kooperierenden Spenderdateien.
In der Datei des Uniklinikums gibt es 38 000 Namen.
Ja, wie gesagt, der Grundstock wurde 1995 gelegt. Da es auf unserem Gebiet geschichtlich betrachtet über Jahrhunderte viele slawische Einflüsse gab und nach dem Dreißigjährigen Krieg durch die Ansiedlung von mehr als 20 000 französischen Hugenotten viel „Genetik“ aus dem Westen Europas, war es wichtig, diesen Pool aufzubauen. Typisiert wurden bisher mehr als 70 000 Spender. Die Differenz ergibt sich daraus, dass über die Zeit hinweg, Typisierte gestorben oder aus anderen Gründen nicht mehr verfügbar sind. Um den Pool immer wieder aufzufüllen, müssen wir jährlich 1000 Menschen typisieren. In der Zentralen Knochenmarkspenderdatei in Ulm sind zehn Millionen potenzielle Spender registriert. Übrigens: Mit Blick auf diese spezielle Gegebenheit gehen relativ viele Knochenmarkspenden aus Sachsen-Anhalt Richtung Osten, zum Beispiel Polen und Bulgarien. Und auch in die USA. Denn zur Zeit der Typisierung 1995 lebten in den USA 50 Prozent der Einwohner deutschen Ursprungs. Deutschland exportiert drei Viertel aller Stammzellenspender jährlich ins Ausland.
Wie erfolgt die Vergabe von Knochenmarkspenden?
Wie bei Organspenden hat der behandelnde Arzt nichts mit der Suche und Vergabe von Knochenmarkspenden zu tun. Beides läuft über Ulm.
Was würden Sie Eltern raten, die auf eine lebensrettende Knochenmarkspende für ihr Kind angewiesen sind?
Einfach sechs Wochen Geduld haben. Das ist zwar schlimm, aber 90 Prozent aller Kinder haben einen Spender in der Weltdatei. Der behandelnde Arzt schickt die Typisierungsdaten nach Ulm. Binnen weniger Tage werden sie mit den Daten der fast 20 Dateien in Deutschland abgeglichen, danach mit den vielen Dateien auf den fünf Kontinenten. Alle infrage kommenden gewebemerkmalähnlichen Spender werden nun nochmals einbestellt und untersucht, ob ihre Gewebemerkmale auch mit den mittlerweile moderneren Labormethoden immer noch genauestens mit dem Patienten übereinstimmen.
Hierbei gibt es stets Doppeluntersuchungen zur Kontrolle. Wahr ist aber auch: Wird kein Spender gefunden, kann man das zum Anlass nehmen, neue Stammzellenspender zu werben, so wie es viele Angehörige von Patienten weltweit tun. So dass die Chance für viele Kranke größer wird. Auch wenn das eigene Kind eventuell mehrere Monate davon nicht profitiert. Als mögliche Alternative wird zunehmend ein gewebemerkmalähnliches Nabelschnur-Stammzellenpräparat eines Tiefkühlzentrums eingesetzt. Damit wurde der Heilungserfolg verbessert.