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Volksstimme-Interview mit Jury-Mitglied aus Magdeburg „Remigration“: Karriere eines Unworts

Eine Jury hat den Begriff „Remigration“ in dieser Woche zum Unwort des Jahres gekürt. Im Volksstimme-Interview begründet Jury-Mitglied Kristin Kuck die Wahl und spricht über die Bedeutung einer aktuellen „Correctiv“-Recherche für die Entscheidung.

Von Alexander Walter Aktualisiert: 19.01.2024, 19:31
Remirgration
Remirgration IMAGO/Andreas Franke

Magdeburg - Eine Sprach-Jury hat in dieser Woche „Remigration“ zum Unwort des Jahres gewählt. Eines ihrer Mitglieder: Die Magdeburger Sprachwissenschaftlerin Kristin Kuck. Warum fiel die Wahl der Jury gerade auf dieses Wort? Und welche Rolle spielen aktuelle Enthüllungen des Recherchenetzwerks „Correctiv“ für die Wahl? Wir haben die 40-Jährige zwei Tage nach der Jury-Entscheidung in einem Magdeburger Café zum Interview getroffen.

Volksstimme: Frau Kuck, mit der Wahl von „Remigration“ zum Unwort des Jahres hat sich Ihre Jury für einen Begriff entschieden, der in diesen Tagen ziemlich Konjunktur hat. Erst vergangene Woche hatte das Netzwerk „Correctiv“ über Pläne von Rechtsextremen berichten, Millionen Menschen aus Deutschland zu deportieren. Diese haben dafür eben dieses Wort verwendet. Ist es Zufall, dass Bericht und Unwort-Wahl zeitlich so zusammenfallen?

Kristin Kuck: Die zeitliche Nähe zum „Correctiv“-Bericht war tatsächlich Zufall. Das Wort ist bei uns im vergangenen Jahr 27 mal als Vorschlag eingegangen, vor allem im Zusammenhang mit AfD-Wahlprogrammen oder deren Parteitag in Magdeburg. Dass der öffentliche Fokus jetzt derart auf dem Begriff liegt, bestätigt uns aber natürlich in unserer Wahl.

Warum Remigration?

Seitdem die Unwort-Wahl 1991 zum ersten Mal stattfand, gibt es gleichbleibende Kriterien, nach denen die Jury entscheidet. In Frage kommen Wörter, die die Menschenwürde oder die Prinzipien der Demokratie verletzen, die gesellschaftliche Gruppen diffamieren oder die euphemistisch sind, das heißt, Dinge beschönigen oder verschleiern. In diesem Jahr hatten wir 110 Wörter, die die Kriterien erfüllt haben. Am Ende wurde es „Remigration“. Wir haben uns die Wahl aber nicht leicht gemacht. Insgesamt vier Stunden haben wir beraten.

War Remigration ihr Favorit?

Es war jedenfalls unter meinen Favoriten.

Kristin Kuck, ist Sprachwissenschaftlerin an der Universität Magdeburg. Ihr Schwerpunkt ist die Politolinguistik.
Kristin Kuck, ist Sprachwissenschaftlerin an der Universität Magdeburg. Ihr Schwerpunkt ist die Politolinguistik.
Foto: Jana Dünnhaupt

Es geht um die Bewusstmachung einer bewusst eingesetzten Verschleierungsfunktion.

Kristin Kuck, Sprachwissenschaftlerin an der Universität Magdeburg

Nun dürfte das Wort vor der Unwort-Wahl und dem „Correctiv“-Bericht nicht jedem geläufig gewesen sein. Räumen Sie Rechtspopulisten nicht erst eine Bühne ein und holen sie vom Rand ins Zentrum der Debatte, indem Sie einen solchen Begriff zum Unwort küren?

Dieses Argument hören wir häufig und auf den ersten Blick scheint das tatsächlich zwiespältig zu sein. Natürlich sorgen wir mit unserer Wahl dafür, dass ein Wort häufiger benutzt wird. Was wir erreichen wollen, ist aber vor allem, dass über die Verwendung des Wortes gesprochen wird. In diesem Fall darüber, dass es als Euphemismus für Vertreibung und sogar Deportation benutzt wird. Es geht um die Bewusstmachung einer bewusst eingesetzten Verschleierungsfunktion.

Remigration hat die kritisierte Bedeutung nicht schon immer – und nicht ausschließlich. Drückt die Jury dem Begriff mit der Unwortwahl nicht auch einen semantischen Stempel auf, den es so wenigstens für einen Teil derer, die es benutzen, vorher gar nicht hatte?

Es stimmt, dass das Wort aus der Migrationsforschung stammt. Ursprünglich rückt es dort die Freiwilligkeit einer Rückwanderung in den Fokus. Und ich bin überzeugt, dass die Wissenschaft das Wort in diesem Kontext auch weiter benutzen wird. Richtig ist aber auch, dass die Bedeutung des Wortes von Rechts umgeprägt wurde. Die Kritik der Jury zielt auf diese Tarnfunktion, nicht auf den Begriff selbst.

Beim Gendern führt dessen Verwendung ja oft zum Gegenteil des eigentlichen Ziels: Statt ein gesteigertes Bewusstsein für geschlechtersensible Sprache zu entwickeln, reagieren Leute genervt. Können Sie verstehen, wenn sich Menschen mit der Unwort-Wahl einem Erziehungsimpuls ausgesetzt sehen und mit Trotz reagieren?

Unsere Wahl soll ausdrücklich kein Erziehungsimpuls sein, sondern vielmehr Anstoß zu kritischer Reflexion. Wir wollen darauf hinweisen, wes Geistes Kind das Unwort ist.

Es gibt sehr viele Zuschriften. Die Rückmeldungen reichen von ungezügeltem Hass bis zu Zustimmung und reflektierten Diskussionen.

Bekommen Sie Reaktionen auf Ihre Wahl?

Ja, es gibt sehr viele Zuschriften. Die Rückmeldungen reichen von ungezügeltem Hass bis zu Zustimmung und reflektierten Diskussionen. Erst heute Morgen haben wir eine Drohmail bekommen, Inhalt sinngemäß: Wartet nur ab, bis die AfD erst an der Macht ist ...

Hat sich der Diskurs in Deutschland Ihrer Wahrnehmung nach seit der ersten Unwortwahl 1991 verschoben?

Ja, es gibt meiner Ansicht nach gerade in den letzten Jahren eine Diskursverschiebung nach rechts.

Woran machen Sie das fest?

Wir waren ja eben beim Gendern. Es gibt etwa mit Blick darauf rechtspopulistische Strategien, einen Zwang zum Gendern zu konstruieren. Tatsächlich ist ein solcher Zwang eine Fiktion. Allein indem er konstruiert wird, führt er aber zu Gegenreaktionen wie etwa dem von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder angekündigten Gender-Verbot an Schulen.

Witzig ist schon, dass die Leute oft Vorschläge einreichen, wenn sie sich über etwas oder jemanden ärgern. Wenn Deutschland im Fußball gegen Italien verliert, flattert am nächsten Tag schon mal „Italien“ als Vorschlag bei uns ins E-Mail-Fach.

Weist die Politik damit nicht nur auf die Rechtschreibregeln hin? Erst im Sommer hatte der Rat für deutsche Rechtschreibung Gendersonderzeichen erneut nicht zur Aufnahme in den Duden empfohlen. Sachsen-Anhalts Bildungsministerin Eva Feußner hatte zu Schuljahresbeginn ebenfalls einen Hinweisbrief zum Gendern an die Schulen verschickt.

Aus den Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung lässt sich nicht ableiten, dass das Gendern gegen die Rechtschreibregeln verstößt. Der Rat hat keine Aussage über richtig oder falsch getroffen, eher eine über etabliert und nicht etabliert. Was ich aber sagen will, ist dass Rechtspopulisten die Debatte gern nutzen, um zu polarisieren. Wir erleben eine Zunahme solcher Strategien.

Was waren in diesem Jahr besonders populäre Unwort-Vorschläge?

Der häufigste war „Stolzmonat“. Er ist 900 mal bei uns eingegangen. Entstanden ist der Begriff aus dem Hashtag „Pride month“ – im Zusammenhang mit Veranstaltungen der Queerszene. Auch dieses Wort wurde dann aber von Rechtspopulisten umbewertet. Ein anderer Vorschlag war „Kriegstüchtigkeit“, ihn haben wir 70 mal bekommen. Das Wort hatte Verteidigungsminister Boris Pistorius im Zusammenhang mit Vorkehrungen gegen eine mögliche russische Aggression wieder in die Debatte eingebracht.

Gibt es auch skurrile Vorschläge an die Sie sich erinnern, solche, die Sie zum Schmunzeln bringen?

Vielleicht nicht skurril. Witzig ist aber schon, dass die Leute oft Vorschläge einreichen, wenn sie sich über etwas oder jemanden ärgern. Zuletzt hatten wir beispielsweise „Habeck“. Oder wenn Deutschland im Fußball gegen Italien verliert, flattert am nächsten Tag schon mal „Italien“ als Vorschlag bei uns ins E-Mail-Fach.