Justiz Mit Video: Geheimste Buslinie des Landes - Wie Gefangene per Fahrplan durch Sachsen-Anhalt "reisen"
In Deutschland gibt es ein Netz von Buslinien, das kaum jemand kennt. Diese streng bewachten Transporte fahren von Gefängnis zu Gefängnis. Die Volksstimme hat die Besatzung der Linie U 133 einen Tag begleitet.
Burg/Halle - Als das Team von Dirk Henneberg den 19 Tonnen schweren Bus in der Justizvollzugsanstalt in Halle vorfährt, ist ein entscheidender Teil der Arbeit bereits erledigt. Lange bevor die Gefangenen an Bord kommen, müssen alle Akten geprüft sein: Sind die zu transportierenden Häftlinge suizidgefährdet? Leiden sie unter Krankheiten, die unterwegs zu Problemen führen könnten? Oder waren sie schon einmal gewalttätig? „Im Zweifel verschuben wir lieber einzeln“, sagt der Leiter des Zentralen Transportdienstes des Justizvollzuges Sachsen-Anhalt.
Verschuben ist der bürokratische Ausdruck für den Gefangenen-Transport. Nichts wird dabei dem Zufall überlassen – trotz Einzelzellen, Videoüberwachung, schwerer Bewaffnung und anderer Sicherheitsvorkehrungen.
Zunächst steigt in der JVA „Frohe Zukunft“ in Halle nur ein Fahrgast in den Bus. Der junge Mann hat eine gelbe Kiste mit seinen Habseligkeiten und einen Proviantbeutel dabei. Alles wird untersucht, die Kiste nimmt einer der beiden Fahrer entgegen. Sie wird gesondert verwahrt. Die Fahrer werden sich auf der 350 Kilometer langen Strecke der Linie U133 nach Burg (Jerichower Land) über Raßnitz (Saalekreis) abwechseln. Das „U“ steht für Umlauf.
Am Startpunkt in Halle soll die Fahrt wieder enden, möglichst ohne Angriff. „Den gab es zum Glück noch nie“, sagt der 58-jährige Frank Rockoff. Er ist an diesem Tag der Transportleiter. Seine beiden Fahrer-Kollegen dürfen aus Sicherheitsgründen namentlich nicht genannt werden. Einer von ihnen war früher Gebirgsjäger bei der Bundeswehr bis er zum Justizvollzug nach Halle kam.
Der 36-Jährige steuert die erste Etappe. Sein 60-jähriger Kollege ist schon ein alter Hase beim Häftlingstransport. Jährlich werden mehr als 5000 Gefangene von den insgesamt zwölf Groß-Bus-Fahrern durch Sachsen-Anhalt gebracht.
Kein Halt auf freier Strecke
Der Gefangene aus Halle sucht sich Zelle 16 aus, dann geht es los. Nächster Halt ist der „Rote Ochse“ in Halles Innenstadt. Dort sollen zwei weitere Gefangene zusteigen.
Die kleinen Zellen sind jeweils mit Wechselsprechanlagen ausgerüstet und elektronisch verriegelt. Eine vergitterte Tür trennt das Personal vom hinteren Zellentrakt. Doch trotz aller Sicherheitsvorkehrungen gilt die eiserne Regel: Niemals auf freier Strecke stoppen, weil das den Bus für eventuelle Angriffe verwundbar macht.
„Für den Notfall hat der Bus auch Blaulicht, so dass wir nach Rücksprache mit der Polizei im Stau auch die Rettungsgasse nutzen können“, sagt der 36-jährige Fahrer, während er den Koloss mit den Mini-Fenstern durch Halles enge Straßen lenkt. Die konkrete Route bleibt geheim und wird regelmäßig gewechselt.
Transportleiter Rockoff fährt seit 27 Jahren die Häftlinge durchs Land und hat dabei manchmal zusammengerechnet sogar hundert Jahre Knast im Rücken. Seine Fahrgäste sind Mörder, Räuber, Diebe, Betrüger und Vergewaltiger. Entsprechend groß bleibt seine Vorsicht.
Vom „Roten Ochsen“ geht es weiter zum Jugendgefängnis Raßnitz. Dort lädt die Besatzung einen Fahrgast aus und nimmt zwei neue an Bord. „Das sind Terminer“, sagt Rockoff. Er meint Gefangene, die einen Gerichtstermin oder Ähnliches zum Beispiel in Magdeburg oder Stendal haben. Von der JVA Burg als nördlichen „Busbahnhof“, werden sie dann später mit kleineren Fahrzeugen in die Gerichte gefahren. Aus diesem Grund ist es auch wichtig, dass das Team pünktlich ist.
Der Häftling aus Zelle 16 meldet sich per Telefon. Er muss auf Toilette. Die gibt es zwar für den Notfall an Bord, sollte aber wirklich nur dann benutzt werden. „Wir halten gleich“, antwortet Rockoff. In der nächsten JVA kann der Häftling das WC nutzen. „Das geht nur im geschützten Bereich. Jede Türöffnung stellt ein Risiko dar“, so der 58-Jährige.
Er hat sich als Transport-Experte bundesweit einen Namen gemacht und leitet seit Jahren einen deutschlandweit einmaligen Workshop zum Thema. Vier Mal fand dieser spezielle Austausch der Bundesländer in Benneckenstein im Harz statt.
Im nächsten Jahr soll diese von Sachsen-Anhalt geführte Weiterbildung in Frankfurt am Main stattfinden. Deutschlandweit fahren Justizbeamte die Busse, nur in Bayern übernimmt das die Polizei.
Nach Schätzungen werden pro Tag etwa 2000 Gefangene mit etwa 150 bis 200 Umlauf-Bussen über ein festes Linien-Netz durch ganz Deutschland gefahren. Eine Fahrt von München nach Hamburg kann mit dieser Art des „Reisens“ auch schon länger als eine Woche dauern.
„Bundesweit gibt es für die Verschubung sogar ein Kursbuch“, erklärt der Sicherheitsdienst-Leiter der JVA Halle Frank Birke. Mit jenem Kursbuch planen die Anstalten ihre Verlegungen. Das ist logistisch anspruchsvoll, wie der Beamte sagt.
Denn auch die sonst 40-Minuten-Fahrt nach Leipzig dauert mit dem Liniensystem mehrere Tage. Es geht entweder über Cottbus oder Suhl. Übernachtet wird in den jeweiligen Gefängnissen.
Selbst die Fahrt von der JVA Burg im Jerichower Land nach Volkstedt (Mansfeld-Südharz) dauert zwei Tage. Die Häftlinge übernachten dabei in Halle und steigen nach zwei Tagen auf den Bus in Richtung Suhl um, der über Volkstedt fährt.
In Sachsen-Anhalt gibt es vier Linien: den Landes-Umlaufbus (U 133) und die nach Hannover, Suhl und Cottbus über Brandenburg. Sporadisch fährt auch ein kleiner Transportbus in die brandenburgische Frauenhaftanstalt nach Luckau-Duben. Der Grund: Nur fünf Prozent der Gefangenen sind weiblich.
Notfalls greift Polizei ein
Inzwischen rollt der Bus Richtung Burg. Doch auf der A 14 ist bereits am Morgen ein Lkw verunglückt. Die Crew muss schnell umplanen. Auf solche Situationen sind alle vorbereitet, auch auf eine größere Panne.
An einen solchen Vorfall kann sich Rockoff im Jahr 2016 erinnern. „Da ging auf dem Magdeburger Ring in Höhe der Albert-Vater-Straße nichts mehr“, erinnert er sich. Die Polizei sicherte den Bereich mit einem Einsatzzug und die 27 Gefangenen wurden mit einem zweiten „Justiz-Bus“ zum Zielort gebracht. Beide sind erst wenige Jahre alt und haben jeweils eine halbe Million Euro gekostet.
Der Fahrer sieht unruhig in den Rückspiegel. Vier gleichaussehende Transporter haben sich vor und hinter den Bus gesetzt. Die Anspannung wächst spürbar. „Mittlerweile muss man mit allem rechnen“, kommentiert Rockoff. Doch die Fahrzeuge biegen an der nächsten Ausfahrt auf der A 2 ab.
Der Bus stoppt am Stahltor der JVA Burg. Rockoff bringt eine Maschinenpistole zum Waffenschrank der Schleuse. Sie darf nicht mit in den Anstaltsbereich. Das Team übergibt Passagiere, Gepäck und die verplombten Habseligkeiten der Gefangenen. Nach der Pause rollt der Bus mit neun neuen Insassen zurück nach Halle.