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Leseranwältin Die Würde und Ehre von Menschen achten

05.08.2024, 07:00
Leseranwältin Heike Groll
Leseranwältin Heike Groll VS

Journalisten sind Beobachter des Geschehens, keine Komplizen. Diese Forderung umzusetzen, ist zuweilen eine Gratwanderung wie in dem erschütternden Fall des 30-jährigen Mannes, der seit zehn Monaten in Belarus in Haft saß. Im Juni wurde er wegen angeblichen Terrorismus zum Tode verurteilt, letzte Woche begnadigt. Das Staatsfernsehen hatte zuvor ein Video verbreitet, in dem der Mann, weinend hinter Gittern, den Machthaber Lukaschenko um Verzeihung anfleht.

Auch deutsche Medien veröffentlichten Aufnahmen aus dem Video. Anders als im Original wurde das Gesicht des Mannes meist unkenntlich gemacht, „verpixelt“, wie es in der Fachsprache heißt. Wer die Berichterstattung nach Erscheinen des Videos beobachtet hat, stellte allerdings fest: Die Medien hierzulande sind damit unterschiedlich umgegangen. Manche hatten den Mann zunächst gar nicht verpixelt, dies dann rasch zurückgenommen. Auch die Stärke der Verfremdung variiert. Oft ist das Gesicht wirklich nicht mehr erkennbar; in anderen muss man sehr genau hinschauen, um eine Verpixelung gerade noch zu erkennen.

Wir haben uns für eine deutliche Verpixelung entschieden, im Einklang mit dem Pressekodex: Opfer schützen, nicht unangemessen sensationell berichten, die Ehre und Würde von Menschen achten. Die Berichterstattung liegt zwar im öffentlichen Interesse, das Video als Dokument des Geschehens in Ausschnitten oder als Foto zu zeigen, ist legitim – begrenzt auf ein absolutes Mindestmaß und eingeordnet in den Kontext. Wenn es etwas dokumentiert, dann das grausame Propaganda-Schauspiel einer menschenverachtenden Diktatur. Dafür ist es ohne Belang, wie das Gesicht des Mannes aussieht. Er hat sich seine Rolle und höchstwahrscheinlich auch seine Worte in diesem Stück nicht freiwillig ausgesucht, er konnte ebenso wenig selbst bestimmen, ob er in der Öffentlichkeit erkannt werden will oder nicht.

Ihn in einer derart hilflosen Situation regelrecht zur Schau zu stellen, hieße, seine Demütigung weiter zu transportieren und uns selbst zum Werkzeug der Propaganda zu machen. Beides wäre unverantwortlich.