Leseranwältin Es gibt nicht „die“ Ostdeutschen
Wird die Mehrheit in der Volksstimme nicht gehört? Manche Leser haben diesen Eindruck. Die Berichterstattung oder auch die Auswahl der Leserbriefe gebe nicht die Ansicht der Mehrheit der Ostdeutschen wieder, stattdessen werde Minderheitsmeinungen unverhältnismäßig viel Platz eingeräumt. Meist bezieht sich dies auf Themen wie die Haltung zum Ukraine-Krieg oder die Beurteilung von Regierung und Opposition.
Doch was heißt Mehrheit? Bei näherem Hinsehen stellt man fest, dass es „die“ Ostdeutschen genauso wenig gibt wie „die“ Westdeutschen, auch wenn bestimmte Ansichten hier deutlich häufiger vertreten sind. Nehmen wir die potenziellen Wähleranteile für AfD und BSW. Sie sind im Osten unbestritten höher als im Westen. Bei den bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen, Brandenburg etwa kämen die beiden Parteien laut ZDF-Politbarometer und Forschungsgruppe Wahlen vom 9. August je nach Bundesland auf jeweils 30 bzw. 11 bis 19 Prozent.
Andersherum betrachtet jedoch: Selbst wenn man rein rechnerisch AfD und BSW zusammenzählt, dann stehen dem 51 bis 59 Prozent gegenüber, die die anderen Parteien wählen. Umfragen legen eine ähnliche Stimmungslage in anderen Ost-Bundesländern nahe. Sowohl diejenigen, die sich durch AfD oder BSW vertreten sehen, als auch diejenigen, die das nicht tun, stellen somit große Teile der Bevölkerung dar. Und nicht zu vergessen: Angehörige von Minderheiten sind ebenso Teil der Bevölkerung. Mehr- wie Minderheiten haben die sehr berechtigte Erwartung, dass eine Zeitung „von hier“ die Lebenswelten der Menschen „von hier“ möglichst genau darstellt.
Die Kritik von Lesern ist uns darum sehr willkommen, sie hilft der Redaktion, sich kontinuierlich auf den Prüfstand zu stellen: Wählen wir wirklich die Themen, die die Menschen in Sachsen-Anhalt, in den Städten und auf dem Land umtreiben, und geben wir sie in angemessenem Umfang wieder? In der Volksstimme soll sich die ganze Bandbreite wiederfinden - kritische Einordnung inklusive.